Zero stapft wütend den langen Weg zum Wohnheim der Jungs hinauf. Er wird heute ganz sicher nicht zum Unterricht erscheinen, heute nicht! Er will in sein Zimmer und sich hinlegen. Mit etwas Glück schläft er vielleicht sogar nochmal ein. Seine Gedanken schlagen Purzelbäume. Er ist ganz durcheinander durch seine ständigen gefühlstechnischen Wechsel. Am liebsten würde er jetzt einfach wieder abschalten und halb blind durch die Gegend laufen. Seine Füße wissen immer von allein wo er lang will, zumindest sind so seine Erfahrungen damit. Hoffend, es würde wieder klappen, versinkt er in seinen Gedanken, seinen Erinnerungen, seiner verborgenen Wut und allem, was noch so in ihm schlummert.
Er bekommt geradeso mit, dass sein Körper ihn diesmal nicht dahin führt wo er es gern hätte, doch das veranlasst ihn noch lang nicht dazu umzukehren. Er folgt dem unfreiwillig gewählten Weg bis er sich endlich fallen lassen kann. Erschöpft atmet er durch. Er schnuppert Stroh und Heu und Karotten und das Fell eines Tieres. Er schafft es nicht mal mehr seine Augen zu öffnen. Wie er es sich erhoffte, schläft er sofort an Ort und Stelle ein. In seinen Träumen erledigt er eben die Wesen, die ihn jedes mal aufs neue reizen. Er freut sich über jeden abgegebenen Schuss und darüber, dass es nun einen weniger gibt. Sogar wenn er schläft, lässt ihn sein Hass einfach nicht los, niemals. Die Last, die er mit sich trägt, muss unendlich schwer sein, unvorstellbar schwer. Ich spüre … Wärme um mich herum. Ich fühle, wie ausgeglichen mein Körper wird, wie leicht. Der Geruch in der Luft ist angenehm. Schmeichelnd weht der Wind durch mein ungepflegtes, zerzaustes Haar und lässt mich endlich mal Lächeln. Immer dann, wenn niemand bei mir ist und ich nichts höre außer die Tiere und Pflanzen um mich herum, kann ich loslassen. Noch immer bin ich kein Stück schlauer, was passiert ist oder wo genau ich hier hin gekommen bin, doch in diesen Minuten veranlasst es mich zum ersten Mal zu glauben, dass dieser Ort ein schöner sein könnte. Ich lausche dem Wind, der durch das Geäst weht und wie jedes einzelne Blatt zu diesem spricht, wie die fliegenden Tiere in der Luft sich vom Wind tragen lassen und wie die Wolken durch den Himmel schweben. Es ist, als könnte ich alles hören, wenn es nur ruhig genug ist. Angestrengt halte ich mich auf beiden Beinen. Es ist schwer das Gleichgewicht zu halten. Es kommt mir vor, als wäre ich in meinem Leben noch nicht einmal auf beiden Beinen gelaufen, als müsste ich es erst noch lernen. Nur all zu oft verliere ich mein Gleichgewicht und weiß im nächsten Moment nicht ob ich stehe, falle, liege oder sitze. Mir fehlt jegliche Orientierung, sobald etwas unerwartetes passiert. Jedes Mal taste ich mich nichts wissend durch das weiche, lebendig grüne Gras. Es kitzelt meine Handflächen. Ich spüre jede kleine Spitze an meinen Fingerenden. Mein träger Körper lässt sich nur schwer wieder erheben, wenn ich einmal liege. Zwar kann ich inzwischen wieder alles fühlen aber irgendwie … fehlt noch immer etwas. Vielleicht ist es einfach das Ungewohnte oder die Anstrengung jeder Bewegung. Seit einer gewissen Zeit, irre ich nun schon durch den Wald. Ich kann nicht mal Tag oder Nacht unterscheiden, weswegen ich nicht weiß, wie lange ich nun schon hier bin. Noch immer weiß ich nicht, wo Hier eigentlich ist. Niemand kann mir etwas erklären, niemand kann mit mir umgehen, niemand weiß wer ich bin oder warum ich hier her sollte. Niemand weiß irgendetwas darüber, so wie es den Anschein hat. Meine wackeligen Beine reißen mich aus meinen eigenen Gedanken. Es klingt vielleicht komisch aber sobald ich darauf stehe, bekomme ich ein wenig Höhenangst. Ich muss mich wohl einfach daran gewöhnen., spottet mein Innerstes und zaubert mir erneut ein Lächeln auf die Lippen. Sobald ich es wage mich aus meinem festen Stand vorwärts zu bewegen, halte ich beide Arme von mir gestreckt, um nach irgendetwas tasten zu können. Ich weiß mir einfach nicht anders zu Helfen. Ich brauche etwas festes, woran ich mich halten kann, um vorwärts zu kommen. Ich komme mir dabei so verloren vor, schließlich bin ich der einzige, der sich so voran tastet. Die Panik in mir, wenn ich keinen Halt habe, lässt mich recht schnell handeln. Eilig lasse ich mich von Baum zu Baum fallen. Baum … ich weiß was ein Baum ist aber nicht, in was für einem Gefährt ich da saß, wo ich nun bin, woher ich komme oder wer ich bin. Schmunzelnd, bildet sich vor meinem inneren Auge das Abbild eines Baumes, aller Bäume und jeglicher Naturregung dieser Gegend. Endlich! Endlich bekomme ich ein Gefühl für das was um mich geschieht. Die kleinen Bruchstücke ergeben endlich ein volles Bild. Freudig werden meine Schritte fester, denn mitten in diesem Waldstück, tut sich etwas interessantes auf. Auch wenn ich normalerweise solche Dinge wie Häuser meide, so habe ich diesmal keine Angst davor. Ich kann schon von weitem spüren, wie sich darin ein großes Wesen befindet. Es macht mir keine Angst. Es ist so ruhig und überhaupt nicht furchterregend. Das Haus ist von beiden Seiten offen, so dass mir darin eh nichts passieren könnte. Mutig tapse ich über den Erdboden, um dahin zu gelangen. Das Gebäude aus totem Holz steht vollkommen im Freien. Die Pflanzen ringsherum sind zu wenige, um mich daran zu orientieren. Sobald ich den letzten erreicht habe, verharre ich mit beiden Händen daran. Vielleicht reicht es ja auch aus, wenn ich von weitem erst mal einen Blick darauf werfe, einen Blick mit nach wie vor geschlossenen Augen. Verschlafen kehrt der Grauschopf ins Jetzt zurück. Irgendetwas reißt ihn aus seinen wohltuenden Schlaf. Verträumt blinzelt er unzählige Male, eh er sich aufsetzt und sich perplex umsieht. „Wo … wo bin ich?“, murmelt er unverständlich. Nochmals bekommt er das Stroh mit, auf welchem er liegt und das Heu, welches etwas höher neben ihm ist. Er ist in den Stallungen der Cross Academy. Vor ihm liegt das Futter, vor allem viele Karotten für die unzähmbare Stute neben ihm. Vertraut nimmt er sich eine davon und reicht sie dem Pferd neben sich. „Na Lily, guten Morgen.“, wird er nur ihr gegenüber mal etwas sanfter. Erst als er auf schaut, bemerkt er die Blicke der Stute. Was sie wohl hat? Sie starrt die ganze Zeit nach draußen. „Neugierde … ist nichts für mich! Solange keiner dieser Night Class Schüler da steht, ist es nicht interessant!“, hält er sich leise vor. Wäre da einer dieser … würde White Lily nicht so ruhig sein. Sie wäre schon längst durch gegangen aber jetzt … Seine Gedanken halte still, als sich die Schimmeldame bewegt. Erst dachte er, sie würde mit ihrem Huf schaben, weil sie das, was auch immer da ist, nicht mögen würde, doch im Gegenteil. Neugierig neigt sie ihren Kopf auf und ab. Sie atmet tief ein. Ihre Augen sind dabei geschlossen, fast so als … als würde sie das was da draußen ist … akzeptieren! Nachzusehen hat doch nichts mit Neugierde zu tun!, behält er stattdessen im Kopf. Ohne Zweifel dreht er sich sofort um. Das Tier reagiert sonst nie so. Wieso sollte er also nicht auch das Recht haben das zu sehen, was sie sieht. So hastig wie er sich bewegt, raschelt auch das Stroh unter ihm. Das Tier neben ihm frisst die hingehaltene Karotte ganz normal, als wäre, wie sonst auch immer, nur Zero da. Obwohl er sich nun umgedreht hat, bleibt er sitzen. Er sieht nicht, was sie sieht. Er sucht mit seinen Augen das ganze Stück ab, was ihm vor die Augen fällt. Was sieht sie da nur? Was … er!, hat er es endlich erblickt. Mich! Genauso starr wie er, stehe ich da. Mit beiden Händen halte ich mich am Baum neben mir fest. Zum Großteil verstecke ich mich dahinter, doch ein Stück und auch eines meiner geschlossenen Augen schaut hervor. Ich merke, wie er das Stück, was er von mir sieht, streng mustert. Was ich nicht erkennen kann, ist das, was in ihm vorgeht. Lily … warum? … warum gerade der?! Ich glaube langsam, jeder will mich hier ärgern. Begreift denn keiner, dass das was die … anderen … von ihm mitbekommen, nicht mal halb so stark ist wie das, was meine Nase aufnimmt?! … Ich hasse es … ich hasse das alles hier! Je mehr er darüber nachdenkt, desto deutlicher spiegelt es sich in seinem Ausdruck wieder. Am meisten Angst bereiten mir seine Augen. Dieser Blick, dieser scharfe, missachtende Blick. Warum? Warum ich? Die Angst fesselt mich mehr und mehr an den Baum. Mein Körper zittert. Ich schaffe es kaum, mich in der abstehenden Borke festzuhalten, so sehr bebt mein Körper. Wenn ich könnte, würde ich ja einfach davon laufen, doch selbst das – selbst das bleibt mir untersagt. Ich kann nichts weiter als verkrampft an Ort und Stelle verharren. Doch nicht nur ich, auch der mir Gegenüber bleibt wo und wie er ist. Er macht keinerlei Anstalten zu gehen und auch nicht, auf mich zuzukommen. Viel mehr, wendet er seine Blicke abwechselnd zum großen Tier und dann wieder zu mir. Bei jedem Blick reagiert sowohl das Tier als auch ich. Ich kann sogar bis hier her spüren, wie viel Spaß es ihm macht, wenn er anderen Furcht einjagen kann. Es belustigt ihn, dass wir gleich reagieren nur … nur strahlt diese innere Freude nicht nach draußen. Wieso? Wieso versteckt er sich so sehr? Wieso sollte man Freude verstecken? … Wieso? In Momenten wie diesen, geht es mal nicht um mich. Es ist das gleiche, wie bei unserem ersten zusammentreffen. Irgendetwas … irgendetwas ist da in ihm, etwas, was einen zutiefst berührt und jede einzelne Faser erreicht. Es ist ein Gefühl, als würde ich in ihm versinken und in solchen Momenten, sehe ich dann genau das, was er sieht. Mich. Normalerweise … habe ich vor allem Angst, auch wenn ich mich nicht erinnere, es ist so. Normalerweise, würde ich sofort kehrt machen und weglaufen. Normalerweise, würde ich alles tun, um jemanden, irgendjemanden, egal wen, nicht ertragen zu müssen. Warum bin ich letztens also nicht gelaufen? Warum habe ich nicht versucht zu flüchten? … Weil mich diese tiefen, inneren, unterdrückten Regungen berühren und an diesen Ort … fesseln. Es ist … als würde ich in einen Spiegel schauen, egal ob nun durch ihn oder durch mich. Alles was man dadurch sieht … ist gleich! Ich merke nicht mal, wie die Zeit vergeht, in der ich darüber nachdenke aber ich glaube, dass er es auch nicht bemerkt. Inzwischen stehe ich nun schon so lange hier, an diesem Fleck, hinter diesem Baum, dass meine Beine langsam taub werden. Meine Gedanken und die Bilder vor meinen Augen haben mich vielleicht sogar Blind für das gemacht, was tatsächlich vor mir passiert. Als die Sonne aufgeht, weiß ich, dass es nicht das erste Mal ist. Seitdem ich hier stehe, ist sie nun schon zum zweiten Mal aufgegangen. Es ist der dritte Tag an dem ich hier verharre. Meine Arme sind schwach, meine Beine taub, mein Gesicht brennt vor klirrender Kälte der Nacht und mein Zittern ist schon seit einer Weile verstummt. Obwohl mein inneres Auge mir gesagt hat, dass sich in der ganzen Zeit nichts geändert hat, weiß ich, dass es eine Lüge ist. Die Hälfte des Tages war er nie da. In der Zeit ist er in einem dieser Gebäude aus Stein. Bei ihm sind viele andere aber keiner, dem er vertraut gegenüber tritt. Es gibt nur eine kleine Gruppe, drei Jungs, die um ihn herum schwirren. Sie sind wohl so etwas wie seine Freunde, doch auch denen gegenüber verliert er kein Wort dessen, was so schwer auf seiner Seele liegt. Obwohl mein Körper so weit weg ist, spüre ich den Ärger in den drei Jugendlichen. Ich kann spüren, wie sie um die Aufmerksamkeit des Grauschopfes kämpfen, wie sie ihn als richtigen Freund gewinnen wollen. Was ich nicht kenne, ist der Grund für ihren Ärger, für ihren Frust … noch nicht! Jeden Nachmittag verzichtet der Day Class Schüler auf sein Amt. Die Trägheit erwischt ihn jeden Nachmittag – glaubt er. Das was ihn von Tag zu Tag mehr belastet, wiegt schwerer als die Wut, die ihn normalerweise Obacht geben lässt, über die, die ihm diese Last aufgebürdet haben – vermutet er. Deswegen, nur deswegen, führt es ihn immer wieder an den ruhigsten Ort, den er kennt – denkt er. Es ist nicht der Schlaf, der ihn zurück zu White Lily treibt. Auch er spürt etwas, etwas anderes. Sein Körper bringt ihn jeden Tag von allein zur Holzhütte. Erst wenn er wach wird und wieder sieht, was er die Tage immer sieht, ist er wieder voll da. Er mag dieses Spiegelbild nicht, das hat er schon nicht, als er meine Wunden versorgt hat. Trotzdem, trotzdem bleibt er. Immer. Hätte mich diese Stute doch nie darauf aufmerksam gemacht!, sind seine oberflächlichen Gedanken. Warum … kann er nicht einfach verschwinden?! … Nein! … Warum … kann ich nicht einfach gehen? … Er sieht … von Tag zu Tag schwächer aus..., ist das, was eigentlich in ihm vorgeht. Mir geht es inzwischen schlecht genug, dass sogar mein inneres Auge nur noch verschwommene Bilder von sich gibt. Ich sehe nicht, wie sein Blick zum ersten Mal seitdem ich hier bin weich wird. Die Worte, die er seit dieser Zeit zum ersten Mal von sich gibt, sind so unklar, dass ich nicht mal darauf reagiere. Ich kann es nicht verstehen. Seitdem er wieder wach ist, hat er noch nicht einmal zu seinem vierbeinigem Freund geschaut. Es schwirren Fragen in ihm herum. Viele Fragen. Fragen, die er endlich beantwortet haben will. Er will sie wirklich endlich beantwortet haben! Obwohl ich nichts mehr spüre, höre ich meine innerste, tiefste Stimme sprechen. Sie befielt meinem Körper, wie damals schon, als ich die Stufen hinauf kam, dass er sich bewegen soll. Die Blicke des mir gegenüber durchbohren jedes zucken meines Körpers. Langsam löst sich jeder Finger von der angerissenen, halb durch mich zerquetschten Borke. Die Lücke war inzwischen groß genug, dass die Fingerspitzen dazwischen gepasst haben. Sobald ich sie nur gerade mache, fühlt es sich an, als würde ich mir selbst die Knochen brechen. Vielleicht liegt es ja daran, dass meine Finger wie festgefroren waren oder daran, dass die kleinen Spitzen des Holzes sich in jeden Finger hinein gesetzt haben. Egal. Es ist nicht mal wichtig, wie eine warme Flüssigkeit sich darüber ergießt. Jemand befehligt meinen Körper aber es ist nun nicht mal mehr meine innerste Stimme. Meine kurzen Beine zucken, als sie die Last meines ganzen Körpers auf sich spüren. Nur schwer lassen sie sich vorwärts bewegen. Der mir gegenüber wacht plötzlich, mit einem Mal aus seiner Starre auf. „Hä! … was?!“, bringt er schwer zwischen seinen Zähnen hervor. Was habe ich denn eben zu ihm gesagt?! Ich habe es nicht mal selber gehört! Was soll das?! In der Zeit, in der ich hier stehe, habe ich nicht einmal weiter Laufen üben können. So kommt es, dass mein Gleichgewicht schon beim zweiten Schritt versagt. Ich spüre, wie meine Knöchel unter mir nachgeben. Es durchfährt meinen ganzen Körper. Noch eh ich aufkomme und den Schmerz des Falls spüre, fühle ich eine Ruckartige Bewegung. Diese Bewegung kommt von ihm. Also doch …, eh er weiter denken kann, springt er auch schon auf und schiebt den Riegel der kleinen Tür neben sich auf. Das Schaben der Stute neben sich wurde zu heftig, als das nichts hätte passieren können. Auf Lily kann sich der störrische Schüler immer verlassen. Deswegen handelt er so wie er eben handelt. Der Erdboden unter den Hufen des Tieres fängt an zu beben. Ich kann spüren, wie er unter ihr nachgibt. Sie tritt so heftig auf, dass sie Stücken an Rasen heraus reißt. Ihr Wiehern lässt mich aus der Trance aufwachen, in der ich seit drei Tagen stecke. Dennoch ist es zu spät, um mich abfangen zu können. Er ist viel zu schwach. Warum hat er versucht her zu kommen?! Er vertraut doch sonst auch keinem! Dieses dumme Kind! … aber wenn, wenn wirklich jede Bewegung solch eine Reaktion hervorruft, dann steht er wirklich schon seit drei Tagen da. Ich dachte, er würde nur jedes Mal wieder hier stehen, wenn ich mich schlafen lege. Er ist verrückt, einfach nur verrückt! Niemand würde das tun, wirklich niemand … niemand, der nicht halbwegs bei klarem Verstand wäre. Erst da werde ihm die Worte des Direktors so richtig bewusst. Er fängt an zu verstehen, was er ihm sagen wollte und genau das wird ihm nur noch deutlicher gezeigt, als er sich betrachtet, wie energisch die Schimmeldame mir versucht zu helfen und noch mehr, als er sieht wie ich mit ihr umgehe. Obwohl ich fast ohne Bewusstsein bin, reagiert alles an mir auf die weiche Nase des Tieres. Die Anspannung der letzten Tage flieht aus jedem Gesichtszug. Mein Körper entspannt sich allmählich. Ich weiß nicht viel über mich und das was passiert ist aber … etwas so weiches und liebevolles wie die Berührung mit diesem großen Tier, habe ich zuvor noch nie gespürt. Sobald sich in meinen Augen etwas warmes, flüssiges auftut, will ich, dass es verstummt. Mit beiden Armen umfahre ich den Hals des Tieres und presse meinen Kopf dicht an den ihren. Es hilft mir, das was sich in meinen Augen befindet verstummen zu lassen. Je mehr ich mich an sie presse, je mehr hilft es mir! Langsam sinkt ihr Körper zu Boden. Sie legt sich direkt neben mich. Die Geräusche die sie von sich gibt – es klingt beinahe so, als würde sie versuchen mit mir zu sprechen. Ich kann verstehen, was sie mir sagen will. Nichts an mir leistet Widerstand, nichts. Sie packt mich an meinem Hemd und sorgt dafür, dass ich mich an ihrem Rücken festhalten kann. Sie bringt mich dazu, dass ich auf sie steige. Zahm, lieb, ruhig, sanft, erhebt sie sich. Ein Bein nach dem anderen. Obwohl ich nichts tun musste, geht mein Atem schwer. Auch ich frage mich, wie ich das die ganze Zeit nur geschafft habe. Langsam geht sie in den Stall zurück. Ihre Blicke streifen dabei die des Grauschopfes. Sie überlegt, wo genau sie mich absetzen soll. Er kann nicht glauben, was er da sieht. Lily! … So ist sie sonst nie, nicht mal bei mir! Ich glaube, ich weiß jetzt was der Rektor will aber dennoch, warum ich? … Er sieht dem Pferd tief in die Augen. „White Lily …“, muss er lediglich von sich geben. Ihr Kopf neigt sich ihrem Vertrautem zu. Er streift mit seiner Hand durch ihre Mähne und fährt über ihre Stirn. Genießend schließt das Weibchen ihre Augen. Diese kurzen Liebkosungen reichen ihr aus. So lange, wie ich auf ihr liege, kann ich hören, wie sie ein- und ausatmet. Der Takt ist so beruhigend und trotzdem knacken jedes Mal meine Knochen, wenn mein Körper sich ihrem angleicht. Das sind Dinge, die der Halberwachsene vor mir nicht hören will. Zögernd macht er etwas Platz. Die Stute nimmt sich genau diesen Platz, um sich hinzulegen. Ich weiß nicht, wie ich es von ihrem Rücken geschafft habe oder ob ich es überhaupt geschafft habe. Wäre ich bei vollem Bewusstsein gewesen, wäre ich so oder so zurück gewichen, denn er war es, der mich herunter gezerrt hat. Er hat dafür gesorgt, dass ich neben ihm im Stroh liege. Während ich wieder weit, weit weg von alle dem bin, antwortet mein innerstes Ich auf das, was der neben mir sagt. Leise flüstert er, „Ich verstehe es endlich. Deutlicher hätte man es ja kaum sagen können, auch ohne Worte! …“ Ist es nicht so, dass du hier bist, weil dir geholfen werden soll? So wie sie mich damals hergeholt haben, haben sie es auch mit dir getan. Damals hat sich Yúki um alles gekümmert und jetzt – jetzt bin ich wohl dran. Ich bin … der einzige, der so nahe an dich heran kommt vielleicht weil ich … der einzige bin, der den Leuten hier am wenigsten ähnelt … weil ich, kein Mensch mehr bin! Sich das immer und immer wieder eingestehen zu müssen tut weh, sogar ihm. Bisher war es immer eine Last und das wird es auch weiter sein. Vielleicht will der Direktor ja, dass ich lerne besser damit klarzukommen aber selbst wenn nicht, dann kann es doch zum ersten Mal nützlich sein … anders zu sein. Obwohl ich es nicht nötig habe auf ein Kind aufzupassen … irgendetwas in mir will, dass ich es wenigstens versuche. Mag sein, dass es nur durch das Gerede des Direktors kommt aber … Ich merke, wie durchbohrt sein Kopf mit anderen Dingen ist. Er macht sich Gedanken, Gedanken über etwas, was ihn eigentlich nicht beschäftigen sollte. Es lässt mich sogar noch im halbtoten Zustand aufmerksam werden. Auf dem Bauch liegend, bewegen sich mein Arm und meine Hand wie von selbst. Ich glaube, wenn ich ihn nur einmal Berühren kann, wird er vielleicht aufhören über solche Dinge nachzudenken. Er bemerkt nicht mal, wie ich mich ihm erneut nähere. Erst als meine kleine Hand auf seinem Unterarm liegt, zuckt sein ganzer Körper. Die Kälte durchzieht ihn und er sieht zu mir. … Vielleicht liegt es aber auch daran. Wie er reagiert, ist ganz anders als bei anderen. Er sagt nichts und tut eigentlich auch nichts, trotzdem … vielleicht liegt es einfach nur daran! Sein Kopf leert sich, nach und nach. Die Anspannung darin lässt nach und so auch die in seinem Körper. Ruhiger als sonst lässt er sich zurück fallen. Beide Arme überkreuzt er hinter seinem Kopf, dabei stößt er meine Hand von sich. Ich reagiere nicht darauf, eigentlich auf nichts mehr, bis seine Stimme ertönt. „Hör mal, stirb hier jetzt ja nicht weg! Verstanden! Der Rektor will, dass du ab Morgen in die Schule gehst, also wirst du das gefälligst auch tun. Verstanden!“ Seine Worte brenne in meinem Kopf. Es lässt die Kälte darin verschwinden und mich hell aufhören. Die Sorgen und Ängste, die sich in mir ausbreiten, verbreiten sich nur ganz tief in mir. Das ist wohl das einzig gute an meinem eigenwilligen Inneren. Es weiß, was es zurückzuhalten hat, wenn es darauf ankommt. Was mein Körper braucht, ist Ruhe und Schlaf. Es sorgt nur noch dafür, dass ich leicht nicke und ihm so zustimme. Der Rest, kann sich auch Morgen noch klären! Ich schlafe auf der Stelle ein, nur Minuten später auch er und zuletzt sogar die weiße Stute neben mir. Sie hat lang genug darüber gewacht, dass nicht noch schlimmeres passiert. Beruhigt legt sie sich so, dass ich ihren Kopf über mir spüre. Ihr Hals umgibt mich. Ich spüre nur Wärme, seit Tagen endlich Wärme!
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