Um es aber wirklich verstehen zu können, muss ich wohl etwas weiter zurück denken:
Als ich noch ganz klein war, hat mein Vater noch gelebt. Er und Mutter waren das absolute Traumpaar in meinen Augen. Sie haben sich so gut wie immer verstanden und wenn sie stritten, dann konnten sie sich schnell wieder versöhnen. Sie führten einen kleinen Laden 2 Straßen weiter von meinem Haus. Er lag in einer kleinen, verträumten Gegend. Immer wenn ich aus dem Kindergarten Heim lief, denn das durfte ich da schon ganz alleine, ging ich den Umweg am Laden vorbei. Ich habe immer mitgezählt vom Kindergarten aus. 2 Mal über die Kreuzung, 20 Schritte vorwärts, dann links die schmale Gasse entlang und immer geradeaus. Die Gasse führte direkt zum Hintereingang des Ladens. Wenn ich den Pfad hinauf rannte, kamen mir vor allem im Frühjahr, so Anfang April, also jetzt, die Kirschblüten unseres japanischen Kirschbaumes entgegen. Er blühte jedes Jahr aufs neue in seinem prächtigen Rosa und strahlte mit der Sonne um die Wette. Meist blieb ich ein paar Minuten stehen, eh ich unserem Hund, der unter dem Baum lag und schlief, mein restliches Essen vom Kindergarten gab. So erfuhren meine Eltern nie, dass ich fast nichts gegessen habe. Sobald ich ankam, wurde mir von Vater eine hellblaue Schürze überreicht. Er hat sich zu mir runter gebeugt und mir den Kopf mit seiner großen, mehligen Hand gestreichelt. Mit seinen großen, dunklen Augen hat er mich immer angesehen. „Sei auch heute wieder lieb zu unseren Kunden, denn der Kunde ist König und …“ „ … und sage immer artig ja. Ich weiß, ich weiß Papa.“, spreche ich mit ihm zusammen, weil ich es nun schon so oft gehört habe, dass ich es gar nicht mehr vergessen kann. „Und vergiss nicht das Bitte und Danke mein Schatz.“, hat er mir oft nachgerufen, als ich mich schon vor zur Theke begeben habe und mich auf den Hocker stellte. Mutter wartete auch schon immer auf mich. Sie hat sich sofort vom Kuchen entfernt und mir den Bereich überlassen. Sie selber kümmerte sich um die Kassierung der Kunden und die Brötchenkörbe und Brotregale hinter mir, an die ich nicht heran kam. Wir hatten oft alte Kunden, die nur meinetwegen die Kuchen kauften aber auch Mütter mit Freunden von mir. Vor einer Woche kam ein neues Kind in unsere Gruppe hinein, welches nicht viel redete. Es machte alles kaputt, kritzelte über angefertigte Zeichnungen drüber und schubste sogar einige Mädchen von den Schaukeln oder die Rutsche runter. „Hey du, gib uns dein Essen. Du bekommst immer so viel und so gutes Zeug mit.“, hat man mich inzwischen jeden Tag aufgefordert. Die Kinder, die älter waren als wir, sagten so etwas oft. „Ja.“, habe ich ihnen nur geantwortet und sie freundlich angelächelt, so wie es mir Vater beigebracht hatte. Sie haben mir meist gleich die ganze Schachtel weggenommen aber selbst dann nicht alles leer bekommen. Nur Heute, heute, da hat keiner von ihnen etwas abbekommen. „Hey ihr da, habt ihr nichts besseres zu tun?!“, ertönte eine Stimme hinter mir. „Was? Wer bist du denn? Oooo, sage nur du bist ihr kleiner Bodyguard.“, provoziert der Größte unter den Älteren denjenigen, der mich eben verteidigt hat. Doch der Neue hat sich nicht davon beeindrucken lassen. Er hat sich direkt vor mich gestellt und sie alle grimmig angesehen und als er merkte, dass keiner von ihnen hören wollte, ist er sofort auf sie los gegangen. Nein, eigentlich hätte er es so oder so gemacht. Er wartete nicht mal auf eine Reaktion, sondern sah nur wie sie mein Essen an sich genommen haben. Die 3 älteren Jungs mussten nach ein paar Minuten aufgeben und sind weinend zu ihrer Erzieherin gelaufen. Der Neue hat meine Brotbüchse sofort vom Boden aufgehoben, doch steht noch mit dem Rücken zu mir. Begeistert aber vor allem schuldbewusst, weil er sich so in Gefahr gebracht hat, verneige ich mich mehrfach vor ihm. „Verzeih, tut mir Leid, verzeih mir!“, habe ich ihn angefleht, doch als er sich zu mir umdrehte, sah er mich mit ernster Miene an. „Lass das, ich habe nur verteidigt, was eh schon mir gehört!“, doch dabei sah er auffällig rot werdend von mir weg und reichte mir noch immer die Dose hin. Nochmals verneige ich mich tief vor ihm und bedanke mich einfach nur noch. Als ich die Dose wieder an mich nehme, geht er aber noch immer nicht. „Wenn du dich wirklich entschuldigen willst, dann gib mir etwas davon!“, fordert er mich schon wieder streng auf und zeigt mit seinem Finger direkt auf mein Essen. Ich sehe ihn nur eindringlich an, eh ich nicht anders kann als freudig darüber zu Grinsen. Mit einem breiten, strahlendem Lächeln habe ich die Brotbüchse geöffnet und ihm diese mit beiden Händen hingehalten. „Ja, gern doch.“, habe ich es wirklich gern getan. Gleich darauf kam dann aber die Frau mit den drei Jungs. Er hat den Jungen mitgenommen und das Letzte, was ich von ihm sehen konnte, waren seine dunklen, hilfesuchenden Augen, sein schwarzes Haar und das rote Shirt mit einem Auto darauf. Jetzt wo ich wieder hier stehe, vor der Theke, bei all meinen Kunden, rückt das alles in weite Ferne. Die älteren Damen sagen mir immer, was sie gern hätten und zeigten genau darauf, weil sie ja wissen, dass ich noch nicht lesen konnte. „Ich hätte gern 2 Stück von der Schwarzwälder-Kirsch-Torte.“ „Ja gern.“ Ich habe den Tortenheber genommen und getan, worum sie mich gebeten hat. „Dann noch zwei Stück von der Erdbeer-Mohn-Torte.“ „Ja, natürlich.“ Die Frau kauft immer für ihren Mann und sich ein, damit sie ein Stück zum Kaffee haben. Sie haben immer eines hier gegessen und eines bei sich zu Hause. Auch der nächste Kunde kommt mir bekannt vor. Ein Mann im Anzug, der ein Kleinkind im Arm trägt. Sie ist beinahe so alt wie ich, man sieht es ihr aber nicht an. Ein Mädchen und soweit ich bei Mutter's Gesprächen lauschen konnte, heißt sie Amber. „Die gleiche Bestellung wie immer.“, weist er mich streng an, doch das kenne ich bereits. „Ja, kommt sofort.“, dann hüpfe ich vom Hocker und gehe nach hinten zu Vater, der gerade eine neue Torte ausprobiert. Er gibt mir die Schachtel und ich habe sie dem Mann übergeben. Auch ein Junge kommt noch an. Ich wundere mich immer wieder auf's neue, dass er schon jetzt so weißes Haar hat wie die alten Damen, die zu uns kommen. Einmal die Woche, immer wenn Mutter Pause hinten macht, kommt er hinein und holt für seine Hasen altes Brot vom Vortag ab. Er gibt uns dafür auch immer 10€. „Habt ihr zufällig wieder Brot übrig?“, fragt er jedes Mal wieder. Ich stelle mich neben den Tresen und stehe ihm Auge zu Auge gegenüber. Ich lächle ihn freundlich an und schließe breit grinsend meine Augen. „Natürlich. Ich frage Mutter doch immer, ob sie die übrigen Sachen aufhebt.“ Ich hole ihm die Tüte sofort vor und er gibt mir 'mein Taschengeld'. Ich habe mich über jeden zufriedenen Kunden gefreut, weil sie nach dem Kauf immer so ein Lächeln auf den Lippen haben, nur der letzte Kunde für den heutigen Tag, sollte genau das Gegenteil bereithalten. Gerade als alle draußen waren, kam eine Frau herein. Sie hatte eine Uniform an und einen Jungen auf ihrem Arm. Bis sie zur Tür herein kamen, hat er sich gewehrt wie der Teufel. Ich konnte sie gut durch die Scheibe beobachten und sehen, wie er versucht hat zu fliehen. Die Frau sieht böse aus und ich sollte auch gleich erfahren warum. „Ist sie das?“, fragt sie ihren Sohn streng und sofort stand auch meine Mutter neben mir. „Jaaa.“, gibt der Junge nur ungern zu. „Sind Sie ihre Mutter?“, wird sie nun noch wütender. „Ja, was gibt es denn für ein Problem?“, wollte Mutter sofort wissen. Ich mag es nicht, wenn sie so ernst und streng wird. „Sie sollten vielleicht Mal über ihre Erziehung nachdenken! Dank ihrer Tochter ist mein Sohn vom Kindergarten verwiesen worden! Nun müssen wir uns nicht nur einen neuen Kindergarten suchen, sondern gleich komplett umziehen, weil es in der Gegend keinen anderen gibt!“ „Wie bitte? Meine Tochter würde so etwas nie tun. Was soll sie denn getan haben?“ „Sie hat meinen Sohn dazu gebraucht, auf die anderen Kinder los zu gehen. Mein Sohn würde sonst doch nie auf so eine Idee kommen! Gib es schon endlich zu Kleine, du warst es doch oder?!“ Auch Mutter sah mich erwartend an und ich habe mich wieder unter Druck Gefühl. Der Junge auf dem Arm der Frau sieht mich halb flehend an. Er muss vor irgendetwas Angst haben also tue ich das einzig Richtige, auch wenn es mir nur ganz leise über die Lippen rollt. „Ja.“ Daraufhin brach ein großer Streit aus. Meine Mutter hat mich mit ins Hinterzimmer genommen, nachdem sie sich tausend Mal bei der Frau entschuldigt hat. Gerade als die Tür zum Laden wieder schloss, hallte durch jeden Winkel das Geräusch eines Aufpralls. Mutter hatte mich schon ein paar Mal geschlagen aber noch nie so schlimm wie heute. Sie brüllte mich an. „Ich bin es Leid jedes Mal deinen Mist auszubaden. Immer wieder kommen verärgerte Eltern zu uns und beschweren sich über dich. Warum benimmst du dich nur so furchtbar? Ich dachte wirklich, durch die Arbeit bei uns würdest du endlich zur Vernunft kommen aber nein. Wie kannst du uns so etwas nur antun? Deinetwegen kommen doch immer weniger …“ „Ist doch schon gut. Es ist bestimmt nicht ihre Schuld. Lass deinen Frust doch bitte nicht an unserer Tochter aus.“, hat sich Vater wie so oft schützend vor mich gestellt. Er hat mir ein Tuch gegeben, in dem ein Kühlakku eingewickelt war. Ich sollte es auf meine Wange und auf mein Auge halten. Die Zwei haben sich seit langem mal wieder gestritten und hörten so schnell auch nicht mehr auf. Ich flüchtete heimlich, still und leise nach draußen. Ich nahm die Hintertür, die ohne die Türglocke. Sofort kam unser Hund angerannt und ich musste ihn streicheln. Er hat mir mein Gesicht abgeleckt und ich musste leise lachen … aber auch weinen. „Thor, nicht doch. Hör schon auf, nicht lecken.“, habe ich ihn weinend und lachend angefleht, doch er hörte nicht, bis er all meine Tränen aufgeleckt hatte. Ich habe ihn von der Leine gelöst und mit nach vorn genommen. Bis zu unserem Haus war es nur noch eine Straße weiter. Auch wir leben recht weit abgelegen aber zur Seitenstraße hier, könnte man den Standpunkt des Mehrfamilienhauses als Innenstadt bezeichnen. Ein paar Meter vom Laden entfernt blicke ich zurück. Ich betrachte mir gern die Straße. Direkt gegenüber vom Laden stehen riesige Bäume, die mit ihren hängenden Ästen über die ganze Breite ragen. Ihre Blätter sind zwar noch nicht ganz da aber die Blüten dafür schon. Alles leuchtet gelb und weiß und unser kleines Unternehmen sieht aus wie ein Hexenhäuschen, bedeckt von einem Meer aus Blüten.
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