Und er hatte recht. Sowie alle am Tisch sitze, ist die schlechte Laune mit all den Strapazen der letzten Tage vergangen. Isebell gibt ihr bestes, um die Laune bei Tisch hoch zu halten. Ihre Essgewohnheiten sind aber auch zum lachen. Wenn man den Mann so sieht, wie er fröhlich lächelnd zusieht und isst, vergisst man ganz wie alt er eigentlich schon ist. Er wirkt kaum mehr älter als Sally. Sein Lächeln … hat etwas an sich, was mich stutzig werden lässt. Diese Art einfach …
„Sag mal Olli, warst du gestern überhaupt arbeiten? Ich habe nicht gehört, wie wer gegangen ist.“, fragt Sally ganz offen. Ich sehe vom Essen auf. Als erstes wundert mich der Spitzname aber auch nicht zu sehr. Sally hat viel Zeit sich mit ihm zu unterhalten, wenn er da ist und ab jetzt ist ja auch Isebell da, die ihr Gesellschaft leisten kann. „Ähhhh … nein aber das ging schon klar. Habe mich krank melden müssen, natürlich nur für einen Tag.“ Ihr ist natürlich völlig klar weswegen er krank war. Es kam auch noch zum Gespräch, dass Isebell nun immer hier her gehen soll und nicht mehr nach Hause. Das Wichtigste von ihr darauf: Was wird aus Fat? Ja, ich weiß, eine übergewichtige Katze Fat zu nennen ist sehr einfallsreich. Meinetwegen soll die ruhig weg bleiben. Keine Ahnung was Sally dazu sagt, der Arzt war in dem Moment jedenfalls nicht da, so dass er seine Meinung gar nicht äußern konnte. Ich war noch schnell duschen. Endlich. Man hat hinterher ein ganz anderes Gefühl aber als mir das restliche Blut vom Körper geflossen ist, rief es mir mehr denn je zurück, dass das das Blut eines anderen Menschen ist oder besser gesagt war. Ich konnte nur trübselig zuschauen, wie die wohl letzten Überreste den Abfluss hinab laufen. Als es dann Zeit wurde zur Schule aufzubrechen und zur Arbeit zu gehen, läuft Isebell schon etwas vor. Oliver hält mich nochmal auf, für einen Moment und wohl gröber als es gemeint war, indem er mich am Oberarm festhält. „Ähm … mache dir keine Sorgen wegen der Schule. Habe dich gleich mit krank gemeldet. Du könntest auch heute noch Heim … ä-ähm … h-hier bleiben. Ist sicher nicht leichter für dich nun quer durch die Stadt zu gehen.“ Seltsam aus seinem Mund das Wort Heim zu hören. Ich selbst habe da noch nicht so genau darüber nachgedacht. Ich setze ein breites Grinsen auf und sehe ihn an. „Was? Das wird mir bestimmt nicht nochmal Schwierigkeiten machen. So leicht bringt man mich nicht zum heulen. Und hör auf ständig wach zu bleiben, wenn ich später 'Heim' komme.“, betone ich es extra stark, fast schon belustigt. Energisch laufe ich einfach drauf los, Isebell entgegen, die eben mit lautem Aufschrei zurück kommt. Ich sollte mich beeilen und ihr den Weg nochmal zeigen. Ich kann mich ja täuschen aber seitdem wir hier sind habe ich das Gefühl, dass sie noch viel offener geworden ist. Ihr Lächeln ist kindlich wie immer und voller Freude aber es hat dennoch eine andere Wirkung. Auch wenn sie ein kleines Kind ist … Kinder sind nicht dumm. Sie hat bestimmt gespürt was zu Hause alles … schief gelaufen ist. Der Mann kommt erst etwas später nach, man konnte ihn nicht mehr wirklich hören und ich bin mir auch gar nicht so sicher, was er da gesagt hat oder ob er etwas gesagt hat aber hätte er etwas gesagt, wären das wohl diese Worte: „Genau DAS macht mir ja solche Sorgen.“ Zum Glück kommt es nicht bis zu mir. Ich laufe der Kleinen einfach nach, rufe ihr zu, dass sie schneller sein soll. Ich habe nicht vor nochmal vor der Schule Halt zu machen. Durch die Stadt … will ich unbedingt rennen! Vor dem Tor wartet wie immer Kayli auf mich, auf uns. Sie fragt mich sofort aus: „Man, warst du denn schon wieder krank? Ich hatte Sorge, dass du bei dem Anschlag mit dabei warst. Deine Schwester hat mir über ihr Handy nicht sagen können wo du bist. Du hast doch vom Anschlag gehört oder?“ Na toll … da umgeht man den Schrecken gerade so und dann solche Fragen aber was kann sie schon dafür? Sie weiß ja von nichts. In mir tauchen Bilder auf – vom Sonnenuntergang, der tanzenden Figur im Himmel … Blut, Angst, Flucht und Arme … Hände, die mich gegriffen haben. Fast schon mit stockendem Atem wache ich aus meinen Gedanken auf, zucke eine Sekunde zusammen. Die Hand – sie war zu real. Es tat weh daran denken zu müssen aber sie tauchte nicht grundlos in meinen Erinnerungen auf. Es gab keine Situation, in der mir frontal eine große Pranke auf den Kopf gelegt wurde. Aufschauend entdecke ich zuerst den Arm, verdeckt von einem grünen Ärmel. Es ist Sixth, der da vor mir steht. Er hat das gleiche Jackett an wie Vorgestern. Es sind Flecken darauf, dunkle Flecken. Niemand würde erkennen, dass es Blut ist. Er starrt mich ausdruckslos an, eben müde wie immer. Kayli sagt auch nichts, starrt den Jungen und mich abwechselnd an. Sie versucht wohl zu erraten, welches Verhältnis da zwischen uns existiert. Aus seiner schleierhaften Trance aufwachend, streicht er mir mit der Hand über den Kopf. Sogar ich frage mich, was er damit erreiche will. „Brav Beastly.“, murmelt er halb unverständlich. Häääh … What?! Ich schaffe es einfach nicht seine Gedanken zu lesen, bis hinter ihm die immer besagte zweite Person auftaucht. „Wenn er so ist und jemandem zeigen will, dass er ihn oder sie mag, vergibt er immer nur Spitznamen. Mich nennt er Lovely.“ Lovely? Warte mal … dieser eine King letztens hieß Gentle Lover! O Gott, die Zwei sind Brüder und beide sind King-sama's! Gentle Lover – Lovely – King. Gleich in der Schule gegenüber … gibt es zwei Kings!!! „Und was macht er hier?“, fasst Kayli die Frage der Fragen in Worte. Der jüngere Bruder zuckt nur mit den Schultern. Erwartungsvoll blicke ich weiter an dem Arm über mir vorbei, direkt in seine dunklen, dunkelblauen, verschlafenen Augen. Er nimmt seine Hand endlich runter, lässt mein Haar in Ruhe und zieht langsam sein Jackett aus. Er hält es wortlos vor mich, zeigt mir den Rücken. Ganz unten zeigt sich mir ein Riss, ein glatter Riss. „Das weiß ich inzwischen. Hat S … ä-ähm … hat mir gestern, nein vorgestern, schon jemand erzählt.“ „O … Oh … ich bin wohl eingeschlafen.“, stellt er fest. Sowohl ich als auch sein Bruder scheinen die gleiche Gefühlsregung zu erkennen und sind etwas erstaunt darüber. Er ist traurig deswegen … aber wieso? „Soll – Soll ich sie nähen?“ Er überlegt, spricht: „Jaaah. Vergiss es nicht, wenn – wenn du unseren Rang bekommst.“ Ich … weiß nicht mehr, was ich darüber denken soll. Er lässt seine Jacke sofort los, wie er mir das gesagt hat. Ich fange sie gerade so auf und sehe ihm verwirrt nach, wie er mit noch hängenderen Schultern als sonst schon die Straße zu seiner Schule hinauf läuft. Sein Bruder steht noch neben mir. Was er daraufhin tut, gefällt meiner Freundin nun nicht mehr. Sie scheint wirklich einen Narren an ihm gefressen zu haben. Er hat sich zu mir herunter gebeugt und spricht, flüstert: „Er will, dass du ihn nicht vergisst und ihm die Jacke zurück gibst, wenn du zum King wirst. Ist nicht gerade beliebt mein Großer, weil er durch seine Krankheit mehrfach sitzen geblieben ist und wenn er jemanden mag, dann zeigt er das ziemlich offensichtlich. Sag's lieber gleich, wenn du nur mit ihm spielst! Verstehst du wenigstens jetzt, was er dir mit der Jacke sagen will?“ Er will, dass ich mitmache, nein, er geht schon längst davon aus. Wie kommt er auf so eine Idee? Wie soll ich denn … wie soll ich ihm so seine Jacke wiedergeben können? Ein Versprechen gegen eine Verpflichtung und ich stehe dazwischen aber egal was da noch kommt, eins sollte er ganz genau wissen … Ich habe meine Hand gehoben, um ihm nach zu winken und rufe: „Ceceeeel!!! Komm ruhig mal wieder vorbei, ja!!!“ Egal wie die anderen hinter mir schauen, ich glaube, dass das eben wichtig war. Man kann noch sehen, wie sein jüngerer Bruder ihm eine harte aber herzliche Schelle gegen den Hinterkopf verpasst und ziemlich laut von sich gibt: „Was gibt’s denn da zu grinsen! Reiß dich mal zusammen!“ Das zu wissen reicht völlig aus. Ich muss es nur noch schaffen Kayli zu beruhigen. Ihr war dieses Flüstern schon zu viel. Sie begreift wohl nicht, dass ich bei Jungs nicht sehr beliebt bin, nicht beliebt sein muss. So wie wir nach drinnen gehen, fällt mir aus dem Augenwinkel heraus auf, wie uns jemand die ganze Zeit über zugehört hat. Wer zur Hölle hört denn bei solchen Gesprächen zu? Ist ja auch egal … ab zum Unterricht … Die Wochen vergehen und immer mal wieder tauchen die Beiden auf. Kayli hat mir 'verziehen', weil sie dadurch die Chance bekommt, ihren Liebsten besser kennen zu lernen. Der Weg durch die Stadt wird für mich immer ruhiger, zumindest solange es Tag ist. Die letzte Zeit konnte ich leider nicht arbeiten gehen, weil ich Tests nachschreiben musste und neue dazu kamen und er eh keine Hilfe benötigt hätte. Die Zeit habe ich aber auch gut nutzen können. Sally durfte wieder anfangen zu laufen. Oliver hat sich jeden Tag ihre Beine angesehen, weil sie jeden Tag darum gebettelt hat aufstehen zu können. Er hat es nicht erlaubt. Eines Nachts, eine der vielen Nächte, in denen ich nicht schlafen konnte, habe ich sie mir einfach geschnappt und wir haben das Laufen geübt. Es tat ihr weh und sie kam sich blöd vor, musste aber genauso lachen wie ich, als ich meinte, Isebell und ich würde ihr jetzt das Laufen beibringen. Die Kleinste hatte dabei wirklich die wichtigste Aufgabe: Schauen ob jemand kommt. Natürlich hatten wir nicht eingeplant, dass er wach werden würde und schauen müsste. In dem Fall hat Isi nämlich nichts ausrichten können. Er war wütend, richtig wütend, hat fast eine Woche nicht mit mir gesprochen aber eines Abends sollte ich in sein Schlafzimmer. Er saß wie ein Professor am Schreibtisch, mit aufgesetzter Lesebrille und hat mich entwürdigend angesehen. Er hat nicht viel gesagt, nur dass ich mit ihr üben solle. Ich wurde so überschwänglich, dass ich ihm einfach einen Kuss auf die Wange gegeben habe und zu meiner großen Schwester gerannt bin. Sie war genauso aus dem Häuschen und Isebell hat einfach mitgemacht. Seine Wut war weg. Er hat mir nur nochmal deutlich gemacht, dass sie es eigentlich noch nicht hätte probieren dürfen und dass das alles auf ihrer und meiner Verantwortung läge. Das war egal. Sally war ehrgeizig und ich war es auch. Sie hat sehr schnell Fortschritte gemacht, braucht inzwischen kaum noch Hilfe, um wenigstens im Haus umher laufen zu können. So habe ich viele Nachmittage und Nächte im Haus verbracht aber heute … geute war mein erster Arbeitstag seit langem. „Ich gehe dann!“, rufe ich nach hinten durch und schließe nach einem bestätigendem Brummen die Tür hinter mir. Wie ich befürchtete, es ist schon dunkel geworden. Obwohl ich weiß, dass es einen Weg außen lang gäbe, einen längeren aber sichereren, bleibt es beim alten. Jedes Mal, wenn wir von der Schule gekommen sind, konnte ich die Tatsache der abgesperrten Brücke ignorieren. Man konnte sehen, wie es für die Menschen wie ein Fremdkörper war. Anfangs haben alle Abstand gehalten, nur komisch geguckt und sind mit zweifelnden Blicken vorbei gegangen. Es wurde nicht besser, als ein paar 'mutige' Kinder unter der Absperrung durch sind und oben an die Wand sprühen wollten – als eine Art Zeichen, dass sie mutig seien. Sie sind schreiend geflüchtet, haben angefangen Gerüchte zu verbreiten aber inzwischen, 4 Wochen später, gehen sie damit um, als wäre es nicht mehr da. Nur ich kann das nicht, auch jetzt nicht und gerade jetzt, wo ich alleine davor stehe und über all das nachdenke … kann ich mich nicht mal davon abwenden, keinen Zentimeter. Mein eh schon zu schnelles Herz wird noch aufgeregter. Es ist Angst, Angst … und Neugierde. Mein so aufgeregt pochendes Herz schafft es mich zum bewegen zu bringen, selbst, wie die Jungs damals, unter dem gelben Absperrband hindurch zu kriechen, auf welchem drauf steht: „Police, Police, Police …“. Die Stufen bis nach ganz oben sind lang. Viele. Es erscheint mir zum ersten Mal geradezu endlos. Oben angekommen erstreckt sich mitten auf der Brücke ein unendlich großer Blutfleck. Mir war nie klar, dass ein Mensch so viel Blut verlieren könnte und es macht mich froh … froh darüber, dass ich nicht noch mehr abbekommen habe. Ein seltsamer Grund Erleichterung zu verspüren aber es ist so. Mein Körper beugt sich dem Blut entgegen, greift mit einer Hand darauf und wischt darüber. Es tut sich nicht, es ist schon lange getrocknet. Mich etwas weiter umschauend, fällt auf, dass es sogar bis auf die Brücke darunter getropft ist. Ich kann mich nicht mehr davon lösen, werde mit der Zeit, wie ich die ehemalige Flüssigkeit unter mir betrachte, ruhiger. Ich setze mich rücklings an die Brüstung, mit Blick auf den sonstigen Sonnenuntergang. Meine Beine ziehe ich nahe meinen Körper und lege meine Arme darum. Ich starre geradeaus und denke noch intensiver über Geschehenes nach als sonst schon. Es tut weh sich erinnern zu müssen, weil mir immer mehr Details vor Augen geführt werden. Bilder, die mich alles noch intensiver durchleben lassen. Schreie, Jubelschreie. Ich schätze, dass sie hauptsächlich von diesem einen King kamen. „C-Co-Control-Freak? … Ja, ich glaube so hieß er.“ Ein weiterer Scater lässt auch nicht lang auf sich warten. Zwischen den Brücken im Nachthimmel zu schweben und sich den Gegebenheiten anpassen zu müssen, scheint ein beliebter Ort, eine beliebte Gegen zu sein, um seine Fähigkeiten zu verbessern. Er ist schnell, schwebt genauso durch den Himmel wie der sterbende Mann vor 4 Wochen. Er jedoch tanzt nicht so schön, so gleitend, so elegant. Durch die Schwärze der Nacht ist es vielleicht schwerer zu erkennen aber seine Bewegungen wirken, als würde er kämpfen. Es sind ähnliche Sprünge und Drehungen aber viel, viel aggressiver. Er sieht mich nicht, hoffe ich zumindest, oder vielleicht weiß er auch, dass ich zusehe und genießt genau das. Ich glaube, das würde ich auch, wenn ich es könnte. Mit solchen Fähigkeiten, Talenten, kann man sicher viele Menschen beeindrucken, erreichen, sämtliche Gefühle auslösen. Nur glaube ich, dass das bei den wenigsten das Ziel ist oder es früher vielleicht einmal war und mit der Zeit vergessen wurde. Vielleicht ist es auch das, was mir so falsch an diesem Sport vorkommt. Alle verstecken sich, weil sie es müssen aber ich glaube, dass sie es auch so tun würden. Die Macht der Kings ist zu groß und die Regeln werden ja wohl von ihnen und den Old Kings mit ihren Spionen durchgeführt. Es sind nicht viele Regeln aber mit harten Folgen. Mir kommt es vor als – als ginge es ihnen mehr um die Macht, das Geld und das Leid der Menschen. Ein paar von ihnen genießen genau das, das sehe ich schon jetzt und dabei bin ich nicht mal Mitglied dieser, ja, dieser Sekte! Doch der Junge im Nachthimmel lässt sich alle Zeit der Welt, scheint zu trainieren, indem er von Haus zu Haus springt. Er lässt mich die üblen Vermutungen verdrängen, zeigt mir die schönen Seiten dieses Sportes. Er trainiert seine Sprünge und sein Tempo, dabei ist er doch schon so schnell. Es ist nicht einfach dem zu folgen aber je länger man zusieht, desto besser geht es. Es fühlt sich auch wie ein Erfolg für mich an. Ihm folgen zu können, seine Bewegungen zu erahnen und seine Sprünge … das macht irgendwie Spaß. Man lernt ihn zu lesen, mit der Zeit. Irgendwann verschwindet er von der Bildfläche und das nicht, weil die dunkelste Stunde der Nacht angebrochen ist und ich ihn nicht mehr erkennen würde. Er ist weg und es ist absolut ruhig. Was tut sich da für ein neues Gefühl in mir auf? Frust? Nein … oder? . . . Sogar mein Kopf versucht dann mal für eine Sekunde ruhig zu bleiben, nicht zu überlegen und sich seiner Umgebung anzupassen. Stille in der ganzen Stadt – eben die dunkelste Stunde. Nicht mal ein Licht erreicht die oberste Brücke. „Wie lange hast du noch vor einfach nur zuzuschauen!“, erklingt eine böse, aggressive, raue Stimme direkt hinter mir. Ich zucke zusammen, ducke mich erst aus Angst, sehe aber schnell ein, dass das eh keinen Sinn haben würde. Ich lehne mich nach hinten und blicke so weit nach oben wie ich nur kann. Über mir … erscheint dieses furchtbare Lächeln. Ich spüre, wie mein Hirn sofort wieder arbeitet. Alles dreht sich und ich muss sofort wieder zu Boden schauen. Hirn und Herz arbeiten schwer – nicht gut. Keine Sekunde später, wie sich in einem rauschenden Fluss alle Bilder begierig über mich ergossen haben, erhebe ich mich, stelle mich ihm gegenüber in einer deutlichen Abwehrhaltung. „Control-Freak!“, platzt es aus mir. Er gibt so viele Gestiken von sich, wenn er spricht, so überheblich, so von sich eingenommen. „Ahhh, das kleine Kätzchen erinnert sich! Hmmm, wäre auch zu schade gewesen keinen bleibenden Eindruck hinterlassen zu haben. Was ist nun … wie lange willst du mir noch zuschauen?“ Seine Zähne blitzen immer wieder unter der Kapuze hervor. Sie sind weiß, strahlend weiß und extra spitz, wie bei einem Vampir. Wenn der Mond zwischen den Wolken hindurch bricht, erkennt man sogar seine glühend roten Augen, wie flüssiges Blut. Sie dursten geradezu danach. Angst … Angst! … Er macht mir Angst damit, furchtbare Angst. Mein Atem stockt bei jedem Wort und trotzdem verlangt er eine Antwort darauf, Worte von mir. Was ist das nur für ein eigenartiger Druck, der von ihm ausgeht? Den ich spüren kann? Es ist so … ermüdend, erschwerend. „Sprich!“, fordert er mit weit offenem Mund, einem gruseligem Lächeln, was mir meine Nackenhaare zum Stehen bringt. All seine Zähne lefzen hervor und er umfährt seine Lippen mit seiner nach Blut durstenden Zunge. Mir fällt es schwer ihn nicht gleich komplett als Vampir abzutun, schwer, unglaublich schwer. Ich versuche meinen Blick zu schärfen und endlich zu antworten: „Wieso sollte ich nicht zusehen? Hast du etwas dagegen?!“ O-Oh … das war wohl etwas zu viel 'ich'. Er springt sofort darauf an. Fast noch bevor ich ausgesprochen habe, hat er sich aus seinem Vierfüßlerstand auf dem Geländer gelöst, ist mir mit seinen Scates entgegen gesprungen und wollte mich damit treffen. Ich konnte mich gerade noch so ducken aber er – er wollte mich wirklich treffen! Hätte er das geschafft … wäre ich die 10 Meter bis auf die Straße unter uns gefallen. Ich meine e-e-er-er hatte keine Skrupel davor. Auf dem Boden, mitten auf dem Blutfleck hockend, schaue ich zu ihm auf. Er hält sich wieder auf allen Vieren auf dem Geländer und starrt mit seinen glühenden Augen zu mir herab. „Das war keine Antwort!“, knurrt er selbstbewusst. Stimmt, das war es nicht und ich habe auch eine gewisse Vorstellung davon, was er von mir will. „Ich bin nicht lebensmüde und noch weniger bin ich wie du!“ Sein Mund schließt sich. Er kaut sich sichtbar auf der Unterlippe herum und leckt sich gleich darauf Blut davon ab. Ich bin mir nicht mal mehr ganz sicher, warum ich solche Details überhaupt erkenne. Es ist dunkel und er trägt zusätzlich seine Kapuze aber eins fällt sofort auf. Er trägt keine Maske darunter. Nur diese Kapuze. Er muss sich sicher genug sein, dass sie niemals herunter fällt. Nur Sekunden später erklingt sein heiteres, finsteres Gelächter. Erst als er sich beruhigt, spricht er wieder zu mir: „Du bist also nicht wie ich? Also … ich kenne nicht viele Kätzchen, die sich vor einen getrockneten Blutfleck setzen und ins Leere starren!“ Energisch stehe ich auf, trotz der Angst, trotz diesem Druck, den ich spüren kann. „Ich-bin-kein-Kätzchen! Und auch wenn dir das nicht gefallen mag oder egal ist aber ich habe rein zufällig dir zugesehen!“, murre ich ihn an. Was ist nur los mit mir? Bin ich vielleicht doch lebensmüde? Ihn einfach so anzuschreien und Protest einzulegen … doch er lacht nur wieder, diesmal nicht ganz so laut. „Gut, gut, gut … du bist mutig aber das war ja schon bei deinem ersten Auftritt klar aber … dir hat es noch keiner gesagt oder?“ Die Anspannung in meinen Armen und Beinen verändert sich. Er hat mich mit dieser Anspielung völlig aus der Bahn geworfen: „Was? W-Was gesagt?“ „Du BIST nun wie ich … und es gibt KEIN zurück mehr, kleines Füchschen!“ Was? Vom Kätzchen zum Füchschen aufgestiegen? Ist das denn wirklich ein Aufstieg? Im nächsten Moment wird es schon unübersichtlich. Eine dritte Person stößt dazu und das gerade dann, als ich für eine Sekunde unaufmerksam bin. Er kam einfach aus dem Nichts angeschossen und hat sich direkt vor mich gestellt. Seine Arme hat er überkreuzt und hält sie in die Höhe, um den direkt über ihn von seiner Tat abhalten zu können. Mit einer unheimlich starken Kraft wollte der Scater Namens Control-Freak zutreten. Von oben, mit voller Kraft und seinen Scates voraus, einfach auf mich losgehen. Schon wieder so etwas, schon wieder so eine hinterhältige Attacke. Ich verstehe immer mehr, warum er sagte, dem Jungen wäre Dank egal. Er will nur Kämpfen, alles und jeden herausfordern, egal ob männlich oder weiblich. Hauptsache es entstehen neue Konflikte, die er für sich ausnutzen kann. Die Arme des vor mir zittern, mit so viel Kraft tritt Freak zu. „Ninth halt … halt deine dreckigen Pfoten da raus! Das ist weder dein Bezirk, noch deine Angelegenheit! Verschwinde!!!“, knurr der Junge vor mir. Er ist sauer, extrem sauer. Ich kann sehen, wie er sich auf die Unterlippe beißt und diese unter dem Druck nachgibt und einreißt. Letztendlich zieht der obere sein Bein weg, stößt sich von dem vor mir ab, dreht sich in der Luft und landet im stehen, ganz elegant, gewollt deutlich hörbar auf der Brüstung der Brücke. „Hmmmhmm … sehr schade. Und ich dachte kleine Jungs wie du gehören schon längst ins Bettchen. Nicht, dass du ärger von Papa bekommst, kleine Echse.“ „Ich sagte doch, verpiss' dich! Erzähl keinen Scheiß!“, knurrt er noch eine Stufe lauter und noch viele Stufen ungehaltener. Scheiß? War das, was Freak erzählt hat, wirklich nur Unsinn? Welchen Grund sollte er dazu haben? Andererseits, welchen Grund sollte er haben, mich angreifen zu wollen. Ich weiß nicht mehr was richtig ist, auf wen von Beiden ich hören soll … Der Mensch im Anblick eines Vampirs grinst nur spöttisch, zeigt auch dem vor mir seine gefährlich blitzenden Zähne. „Da will wohl wirklich wer ärger haben beim nächsten Slalom!“ Aggressiv geht er einen Schritt auf den Vampir zu, richtet sich auf, brüstet sich. „Soll das eine Herausforderung sein?!“, knurrt er ihn an, wirklich, nicht nur sprichwörtlich! Der vor mir knurrt, als wäre es die einzig natürliche, richtige Abwehrhaltung. Ninth lässt bewusst zu, dass wir ihm in die Augen sehen können und meint ungewohnt ruhig: „Vielleicht … vielleicht aber auch nicht …“ Gleich danach ist er verschwunden, schwebt wieder in der Luft und lacht auf seine schiefe, böse Weise. Nun ist da nur noch der Druck des Anderen zu spüren und seinem Gemütszustand zufolge, könnte das beinahe den Druck des Freaks übersteigen. Ich gehe ein paar Schritte zurück, bis da das Geländer auftaucht. … Warum ist so eine Brücke auch immer so schmal? Man merkt auch, wie er versucht seine Wut runter zu schlucken, doch es klappt nicht. Er wendet sich an mich, knurrt noch immer und fragt in einem tiefen Ton nach: „Sage mal, kannst du wirklich keine Sekunde lang hören? Nicht wenigstens ein einziges Mal?! Was habe ich dir letztens noch gesagt?!“ „Letztens?“, frage ich verwirrt, denke nicht vorher nach. Automatisch hat sich ungläubig eine Augenbraue hoch geschoben. „Lass deine dämlichen Sprüche, die helfen dir nicht weiter, zumindest hier nicht!!! Man kann doch nicht wirklich so schnell jedes Wort vergessen, oder?!“ Man … Seroll ist echt sauer. Ich weiß ja, er hat ja recht, das stimmt schon aber … „Ich konnte doch nicht ahnen, dass er so etwas versuchen würde!“, knurre ich in gleichem Ton zurück. „Das hätte man wohl nicht erahnen können, nachdem er dich erst schon von der Brücke schmeißen wollte?!“ Ich halte ein in meiner Wut und meiner Bewegung, sobald sein Satz gesprochen ist. Was? Was hat er eben gesagt? „D-Du-Du hast – hast zugesehen?“ Auch er schweigt plötzlich, sieht ziemlich verlegen zur Seite. „Seit wann hast du …“ „Naaaach, das geht dich genauso wenig an!“ „E-Etwa … die ganze Zeit?“, hauche ich. Das ist irgendwie … verwirrend … und gleichzeitig irgendwie auch niedlich … und beängstigend, nachdem ich gesehen habe, welche Kraft er haben muss. Seine Arme haben zwar gezittert aber der Druck, der auf ihm lag, war auch spürbar groß. Ich weiß selbst nicht was ich mit solchen Fragen bezwecken will, was mit 'die ganze Zeit' gemeint ist. Es könnte seit dem Aufeinandertreffen des Verrückten und mir gemeint sein oder auch schon 2 -3 Stunden. Ich halte entwaffnet die Hände hoch. „Nein, weißt du was, ich will's gar nicht wissen.“ Aber irgendwie hat er es drauf sich selbst zu verraten. Nachdem er ein bisschen Dampf ablassen konnte und tief ein- und ausgeatmet hat, wirkt er wieder wie vorher. Eine Hand legt er in seinen Nacken und er schaut runter auf den Boden, auf den riesigen Blutfleck. Seroll spricht selten ruhig: „Gut, besser so. Jetzt verrate mir, was du hier zu suchen hast? Warum kommst du, nachdem du eh schon gesehen hast, was passiert ist, nochmal hier her? Sei ehrlich.“ Meine Stimme hat sich auch beruhigt, klingt überlegend; „Was? Ich – Ich weiß nicht … genau. Das ist einfach mein Heimweg.“ „Du solltest ehrlich sein … Ich habe dieses hin und her satt.“, hält die Ruhe nicht lang. Ich will ihn gar nicht aussprechen lassen. Ich weiß, er wollte mehr los werden aber als er diese paar Worte von sich gibt, muss ich ihm entgegnen: „Glaube mir, nicht nur du! Jetzt sage mir endlich, was wirklich Sache ist! Dieser Freak hat mir das nicht umsonst gesagt, ganz bestimmt nicht! Lass endlich dieses sinnlose verschweigen.“ Sein Blick ist fest und er starrt mir in die Augen: „Gut! Du willst also die ganze Wahrheit?“ Ich nicke nur und hoffe, dass er es diesmal endlich ernst meint. Wieder atmet er durch, um nicht länger aufgebracht zu klingen. „Dann fange ich mit der wichtigsten Wahrheit an. Die, die du nicht zugeben oder einsehen willst … Es gibt keinen Grund für dich hier zu sein, hier zu bleiben. Nicht so wie du dich gibst, wie du dich anderen zeigst und was du anderen sagst. Der einzige Grund, der dein Erscheinen hier rechtfertigen würde, ist nämlich der: Du willst scaten! Du willst es genauso sehr wie wir alle und du bewunderst, was wir machen können!“
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