Gerade schaue ich mich nochmal um. Überall stehen Halberwachsene, Jugendliche herum und ich zähle zu ihnen, denn es ist meine Klasse. Alle tragen sie ihre Abschluss-T-Shirts, die von den Mädchen vor einer Weile ausgesucht wurden. Türkis musste es sein. Ich kann zusehen, wie sich die Mädchen schon jetzt wieder versuchen, die Jungs für sich zu gewinnen, dabei geht die Klassenfahrt doch erst los. Verwundert über ihr Verhalten, schaue ich ihnen amüsiert zu. Da kommt doch mal tatsächlich jemand von ihnen auf mich zu. Bei genauerem hinsehen merke ich, dass es meine beste Freundin ist. Ich hätte sie ja gleich erkennen können, mit ihrem dunkelblau gefärbten Haar.
„Hey Niko, freust du dich auch schon so?“, kommt sie zu mir gesprungen. Ich erinnere mich nur zu gut an eine frühere Fahrt, „Klar doch, was denkst du denn! Weißt du noch die Fahrt nach London?“ Ja ja, ich weiß, meine Eltern hatten wirklich ihren eigenen Kopf bei der Namensgebung aber man kann ihnen ja auch nicht die volle Schuld dafür zuschieben. Schließlich waren die gegebenen Umstände ja auch nicht praktikabel. Ich meine so auf der Rücksitzbank eines alten Trabis hinter einer Scheune, das muss man auch erst mal hinbekommen! Als sie mir das erzählt haben, dachte ich glatt an eine moderne Erzählung von Jesus. Mein Vater musste ihr helfen zu entbinden und hielt mich auf dem ersten Blick doch glatt für einen Jungen. Noch eh ich auf den Armen meiner Mutter lag, stand mein Name fest: Sie wollten ja unbedingt, dass ich Niko heiße. … Manchmal da – da wünsche ich mir schon, dass ich sie wenigstens kennen würde, doch leider sind beide kurz nach meiner Geburt gestorben. Man hat mir erzählt, dass ich verlassen da lag, wo sie mich entbunden haben, mit einem Namensschild auf der Brust. Das alles sind Geschichten, die man sich zusammengereimt hat, also weiß ich nicht, was wirklich passiert ist, also nicht genau. „HALLO! Niko, was ist denn heute nur mit dir los?“, unterbricht die Blauhaarige meine Gedanken. Leicht verdattert sehe ich die mir gegenüber an, „W-W-Was? Tut mir Leid Mikan, ich war gerade woanders.“ Verlegen kratze ich mir an der Wange. „Ja, das hat man gemerkt. Also jetzt zum dritten mal, nehmen wir uns zusammen ein Zimmer?!“, wird Mikan langsam lauter. „Was? Ja klar doch. Dass du da noch fragst!“, belächle ich sie. Da mir aber der Blauschopf nur selten böse sein und dann auch bleiben kann, lächelt auch sie bald wieder. „Komm jetzt, sie zählen durch und dann steigen wir ein.“ Meine alte Kindergartenfreundin greift nach meiner Hand und zerrt mich hinter sich her. Mit einem leicht unangenehmen Gefühl folge ich ihr. Sobald wir den Eingang des großen Busses erreicht haben, entreiße ich mich aus ihrem Griff und werde mit einem mal rot. „Tut mir leid.“, entschuldige ich mich bei ihr. Stur laufe ich an ihr vorbei, in den Bus hinein und auf irgendeinen Platz. Schon kurz nach dem losfahren, setzt sich neben mich ein Junge. Ich kenne ihn, auch er ist in meiner Klasse. Wortlos sitzen wir nebeneinander da, bis ich meine Kekse auspacke. Höflicherweise denke ich daran, nicht alles allein essen zu wollen. „H-Hunger?“, frage ich ihn dennoch viel zu leise und mit stockendem Atem. Da ich es ihm aber eh hinhalte, greift er automatisch zu. „Warum – Warum setzt du dich neben - neben deine Banknachbarin?“, getraue ich mich nach langem überlegen doch noch nachzufragen. Ich sehe nur zaghaft zu ihm herüber, so von der Seite, dass er es kaum bemerkt. Immer wieder wandern meine Pupillen zu ihm und dann von ihm weg. „Na ja, eigentlich habe ich beim Flaschendrehen verloren und sollte dich küssen.“ O je, ich spüre wie die Röte in meinem Gesicht Einzug hält. Rasch drehe ich mich von ihm weg und starre aus dem Fenster. „Ich habe aber keinen Bock darauf …“ Zum Glück!, denke ich mir nur, erleichtert. „Mich interessiert etwas anderes … ähm … also, deine Augen?“ Ich weiß sofort was er von mir will. Jeder findet sie seltsam und fragt danach. Das eine smaragdgrün, das andere rubinrot und genau so deutlich glitzern sie, wenn man nur genau hinsieht. Dennoch erschrocken Blicke ich kurz zu ihm, dabei weht mir mein goldblondes Haar um die Ohren, unter welchem ich dann wieder Mund und Nase verstecke. Meine Blicke gleiten wieder nach draußen. „Ich weiß nicht warum das so ist.“, beende ich das Gespräch kurzerhand. Aila und Ben, das sind meine jetzigen Eltern, erzählten mir, dass die Ärzte damals festgestellt haben sollen, dass ich angeblich für immer blind sein sollte. Manchmal frage ich mich wirklich, was solche Ärzte den ganzen Tag über machen!? Im Gegensatz zu dem was sie erzählt haben sehe ich eine Menge, sogar viel, vielleicht sogar manchmal zu viel. Schon bei meiner Geburt war so einiges seltsam und das hat sich bis jetzt nicht geändert. Mein Leben war bis jetzt alles andere als normal. Doch bisher wusste ich ja noch nicht, wie unnormal es einmal werden würde! Wortlos setzt er sich wieder zu seinen Freunden und erzählt, er hätte es getan. Erst glaubt ihm keiner, doch dann grölten sie lauthals los. Andere hingegen geben auch ein angewidertes murmeln von sich. Ich fasse es ja nicht. Sind die jetzt schon so weit gesunken? „Er hätte mir ja wenigstens sagen können, auf was ich mich vorzubereiten habe.“, murmle ich unverständlich in mich hinein. Ich und meine wenigen Freundinnen gehören zu den unbeliebtesten Schülern der Klasse, dabei sehen die anderen weder schlecht aus, noch haben sie einen schlechten Charakter und ich glaube, ich kann das ganz gut einschätzen, so lange wie wir uns jetzt schon kennen. Ab und zu lässt sich mal einer der ach so erhabenen Schüler auf unser Niveau herab. Sie unterhalten sich in der Zeit dann mit uns als wäre alles ganz normal. Da jeder von unserer kleinen Gruppe freundlich genug ist, hören wir natürlich zu und geben auch manchmal Tipps, die ihnen dann den Hals retten. Natürlich haben sie es nicht verdient aber wir sind ja immerhin eine Klasse. Man könnte behaupten, das Verhältnis in unserer Klasse ist etwas gestört, aber das behauptet doch jeder von seiner Klasse oder? Die ganze Fahrt über gibt es nur ein Thema: diese Fahrt! Alle, wirklich alle freuen sich darauf, da ist es vollkommen egal, dass die jeweilige Parallelklasse mit fährt. Es ist unsere Abschlussfahrt, das bedeutet also Alkohol. Alle schmieden sich schon ihre Pläne, was sie in ihrer freien Zeit so anstellen werden. Bei den Mädchen geht es zumeist um einkaufen, bei den Kerlen eher darum, wie sie in die nächste Bar hinein kommen sollten. „Da sind wir jetzt schon auf dem Weg und keiner kann über etwas anderes sprechen, seltsam oder?“, spreche ich es ungehemmt aus, denn ich habe mich inzwischen zu meinen Freunden hinter setzen können. Dadurch, dass sich meine beste Freundin nicht zu mir setzen konnte, mussten sie woanders hin rücken. Sie haben mir da einen Platz frei gehalten. Zustimmende Gesichtsausdrücke fliegen mir entgegen. Wir Bettler, Looser, der Abschaum der Klasse, spielen lieber mit dem DS oder lesen Bücher, eben alles, um die stundenlange Fahrt kürzer zu gestalten. Ach ja, wo es hingeht? Nach Hamburg!!! Schon als wir in die Stadt hinein fahren, kleben alle mit ihren Blicken an den riesigen Häusern und mit den Gesichtern an den Scheiben. Das Bild, wie alle daran kleben, erinnert mich furchtbarer Weise an einen Schwarm Fische, so wie sie jetzt schauen. So etwas kennt keiner von uns, wir kommen schließlich aus einer Kleinstadt und aus den Dörfern rings um. Keiner von uns hat so etwas bisher gesehen. Das größte Rätsel von allen ist bisher aber noch das Hotel. Wir haben zwar schon Bilder gesehen, doch keiner hat eine Ahnung von der Zimmeraufteilung. Als wir auch da endlich vorfahren und aussteigen ist der erste Eindruck schon mal … enttäuschend. Es sieht sehr langweilig aus und würde man daran vorbei fahren, würde man es sogar übersehen. Dieser erste Eindruck täuscht. Sobald wir drinnen stehen, sieht es wirklich toll aus. Überall hängen kleine Kronleuchter und alle Mitarbeiter sind freundlich. Gleich als erstes werden wir in den Speisesaal geordert. Unsere Lehrer meinen, es gibt noch ein paar Dinge zu regeln. Gerade mal eine Angestellte folgt uns. Bei einer Klassenstärke von über 50 Mann hat sie einfach keine Chance. Die vielen verschiedenen Stimmen bringen ihre Ohren fast zum platzen. Ein lautes, „RUHE!“, ertönt von unserer Klassenlehrerin und jeder gehorcht. Es werden die Regeln des Hotels verlesen und die Zeiten in denen wir essen dürfen. Wie die Stimmung daraufhin war? Mies, denn wir dürfen im Grunde genommen nichts! Bis hier hin kennen wir nicht mal die Zimmeraufteilung. Die wird gleich danach verkündet. Die Mädchen hören nur dann zu, als es wichtig wird. Es gibt ganze drei Zimmer, ganze drei! In der Parallelklasse gibt es zwölf Mädchen und in unserer ganze sieben. Das bedeutet also sechs, beziehungsweise sieben Mädchen auf einem Zimmer. „Und so wird das Drei-Sterne-Hotel zur Jugendherberge!“, wirft Mikan enttäuscht in die Runde. Mit gesenkten Köpfen suchen wir uns unseren Weg nach oben, bis in den fünften Stock. Uns wurde verboten mit den Taschen den Fahrstuhl zu benutzen, deswegen also laufen. Nach langem hoch und runter und hin und her finden wir endlich das richtige Zimmer. Als ich auf meine Uhr sehe, kann ich nur sagen, dass wir fast eine viertel Stunde gebraucht haben. Die Bettenverteilung geht unerwartet schnell. Jeder wirft sich irgendwo hin und bleibt da gleich liegen. Da sich alle Mädchen in diesem Zimmer kennen und halbwegs verstehen, konnte schnell geklärt werden, wer in die Abstellkammer geschickt wird. Darin steht ebenfalls ein Doppelstockbett. Neben dem Bett passt noch gerade so eine Tasche und vier Füße hinein. Erst wird das Hotel zur Jugendherberge und jetzt schon zum Gefängnis. Wie wir uns doch freuen! Ach ja, wer in das abgeschottete Kämmerchen ziehen durfte? Ratet mal, natürlich Mikan und ich. Jeder kommt mal bei uns schauen und alle finden den Raum viel zu klein. Danke, das wissen wir auch! Die anderen Mädchen können nicht mal das Zimmer betreten, so wenig Platz ist da. Ich werde ohne jeden Rückhalt sofort nach oben verbannt, denn Mikan hasst es oben schlafen zu müssen. Für sie ist da die größere Gefahr sich den Kopf zu stoßen - wie sie meint. Widerspruchslos folge ich ihrem Befehl. Ich habe das Gefühl mein Bett wird zur halben Wohnung aber wer kennt das nicht. Was nicht in Reichweite ist, ist ein unnötiger Weg. So kommt es, dass mein Essen, Trinken, meine Sachen und mein Laptop alle irgendwie hier oben herum liegen. Mehr braucht es eigentlich auch nicht, finde ich. „Wir müssen in einer Stunde essen und dann machen wir irgendetwas.“, berichtet uns eine der wunderschönen Mädchen, die über uns stehen. Wow, sie unterhalten sich wirklich mit ihrem Fußvolk! „Hey Mikan, gehen wir ein wenig in die Stadt? Du wolltest dir doch Tabletten gegen Halsschmerzen besorgen.“ Zustimmend nickt der Blauschopf unter mir. Sofort machen wir uns auf den Weg. Es gibt in der Nähe nur leider kaum eine Apotheke und überall laufen irgendwelche zwielichtigen Leute herum. „O je, wo sind wir denn hier gelandet?“, macht sie sich darüber lustig. Diesmal unterhalten auch wir uns über die Klassenfahrt. Wir wollen ja nicht mit Vorurteilen daran gehen, doch was bis jetzt geschehen ist setzt unsere Erwartungen auf Grundeis. Endlich fündig geworden, machen wir uns auch schon auf den Weg zum nächsten Laden. Ein riesiger Buchladen lässt unsere Herzen höher schlagen. Schuhe? Die können wir morgen auch noch kaufen. Man könnte sich hier drinnen verlaufen. Unsere Freude ist kaum in Worte zu fassen. Jeder hat etwas gefunden, was er gerne lesen würde. Anfälle die andere bei Schuhen bekommen, bekommen wir eben beim bezahlen an der Kasse, allein aus der Freude, dass wir Beschäftigung für die nächsten Tage haben. Ich brauche gleich zwei Bücher. Meine Liebe zu Fantasy ist nun endlich etwas gestillt, doch zugleich auch die zu Mangas, vor allem wenn es um Yaoi geht. „Na dann, lass uns mal essen gehen.“, sprechen wir es zugleich aus und müssen lachen. Als unsere Mägen anfangen zu knurren, sind wir gar nicht mehr zu halten. Lachend betrachten wir uns unser Gefängnis von draußen. Wieder unten im Speiseraum, werden wir erneut enttäuscht. Ist es denn wirklich zu viel verlangt, dass wenn auf dem Zettel steht drei-Gänge-Menü, dass man das auch wirklich bekommt? Was wollen wir denn mit diesem mickrigen Buffet?!, könnte ich mich innerlich darüber zerreißen, doch der Hunger treibt es irgendwie rein. Ganz ehrlich, ein Schulkantinenessen hätte es da genauso getan. Nörgelnd aber dennoch satt schmeißen wir uns in unsere Betten. Zuvor holen wir uns noch die WLAN-Schlüssel ab. In einer Stunde soll es auch schon wieder weiter gehen. Nun war es endlich so weit. Wir stehen kurz vor der U-Bahn und man kann die Leute schon grölen hören. Heute ist der erste Mai und ich frage mich, ob unsere Lehrer das überhaupt so genau wussten. Bis eben, so wie es den Anschein macht, jedenfalls nicht. Als wären wir kleine Kinder, halten sie uns fest, bis der Zug abfährt. Ihr Plan ist es den nächsten zu nehmen, doch wie ich es mir schon denken konnte, läuft es da nicht anders ab. Die nächsten „Linksextremen“, oder wie ich einfacher sage: „Punker“, rücken schon an. „Hey Niko, nicht umkippen!“, rät mir meine beste Freundin. Mit großen Augen mustere ich jeden einzelnen ganz genau. Mein einziger Schwachpunkt sind solche Leute. Das ist einfach meine Schwäche und ich weiß absolut nicht warum. „Ich glaube nicht, nicht heute.“, quietsche ich aufgeregt. Mit leicht betäubten Ohren merkt sie, wie ich nach ihrem Arm greife und zudrücke. Ich mag es nicht, wenn ich so laut quietsche und Aufmerksamkeit verursache. Es hilft nur geringfügig. „Was hältst du davon, wenn wir noch mehr sehen würden?“ Das ist genau eine dieser Fragen die man mir nicht stellen sollte. Aufgeregt pocht mein Herz und das so stark, dass sogar Mikan es noch schlagen hören kann. Ihre Arm drücke ich so stark, dass sie vor Schmerz ihr Gesicht verzieht und sie befürchtet, dass er blau anlaufen könnte und vielleicht noch abfault, wenn das so weiter geht. In der Bahn endlich drinnen, erhaschen wir zwei noch gerade so einen Sitzplatz. Mit einem breiten grinsen im Gesicht versuche ich den mir Gegenüber nicht all zu deutlich anzustarren. Okay, sogar nach so vielen Rückschlägen, würde ich diesen Tag heute doch noch als besten meines bisherigen Lebens bezeichnen! Geschlossen laufen wir zu einem Park in dem es ein buntes Lichtspiel geben soll. Als wir ankommen, haben wir Mühe überhaupt einen Sitzplatz zu finden. Wir hätten an Decken denken sollen, denn der Boden ist inzwischen nass und die ganze Zeit stehen geht auch nicht. Die anderen setzen sich auf ihre Jacken oder ähnliches, doch dafür müssen sie eben frieren. Wir haben Glück. Es sind gerade ein paar Leute vom Bordstein aufgestanden. Hastig setzen wir uns genau da hin. So werden wir zumindest schon mal nicht nass. Sobald wir sitzen, fängt es auch schon an. Eine männliche Stimme erklingt durch die Lautsprecher. Er hat eine sehr mitreißende Stimme, allen gefällt sie. Wir werden auf Englisch und auf Deutsch von ihm begrüßt. Als dann auch die kleinen Wassersäulen in die Luft schießen, ertönt endlich die Musik. Zeitgleich schalten die Lichter ein. Die LED's beleuchten die Wassersäulen, die in alle Richtungen zeigen. Im Takt mit dem Lied sieht das alles umwerfend aus und obwohl es nur Klavierstücke sind, gefällt es sogar den ach so tollen Jungs. Mitten drinnen zucke ich zusammen. Ich habe das Gefühl aufstehen zu müssen, doch unterdrücke es noch gerade so. „Was ist? Ist etwas passiert?“, fragen alle besorgt nach. „A-Ach … nichts.“, doch meine Augen sind viel zu weit offen, als dass nichts hätte sein können. Da war doch eben wirklich wieder … wer ist das und was hat das zu bedeuten? Ich habe die Schnauze voll davon. Es kann nicht sein, so etwas gibt es nicht! Kein Mensch kann auf dem Wasser stehen, mag er noch so leicht oder klein sein. Da war nichts, niemand, kein Kind, kein Mensch – einfach NIEMAND!
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