Ich muss nur noch da hoch und dann immer weiter Richtung Norden. Von den Hochhäusern aus sieht man am besten, wo genau man hin muss. Und es nimmt weniger Zeit. Ich habe nur noch 30 Sekunden, ansonsten ist die Mission dahin. Ich will die nicht nochmal … ääähh … nicht nochmal …
Verdammt, meine Konzentration ist irgendwie dahin. Was wollte ich eben noch … irgendwie ha-habe ich gerade ein ganz komisches Gefühl. Boar, mir wird 'n bisschen schlecht. Woran liegt … Die Frage wird mir beantwortet, als ich zufällig vom Bildschirm weg schaue, die Bewegung vor dem Fenster mitbekomme. Ha-Harmony, d-da stimmt was nicht. Mein Körper löst sich umgehend vom Spiel, so wie es mein Geist schon längst getan hat. Ich schalte einfach aus, ist ja egal jetzt, hätte das eh nicht mehr gepackt. Seinen Bewegungen durch die Fenster mit meinen Augen folgend, bestätigt sich mein ungutes Gefühl nur noch mehr. Er … ist langsam und irgendwie t-träge? Als er zur Tür herein kommt, leise, um keinen zu wecken, der vielleicht schon schlafen könnte, ist da sofort diese – diese … Kraftlosigkeit. Also ist das der Grund, warum er so ruhig ist. Mist, um den Kerl macht man sich auch ständig Gedanken! Ich bin mir nicht mal sicher, ob er mich überhaupt sieht, als er an mir vorbei tapst. Ja, er tapst, hat wie so oft keine Schuhe an, nicht mal 'ne Hose trägt er und er hält sich seine Seite, mit Blicken dem Boden zugewandt. Was mache ich? Was mache ich jetzt nur? Wenn ich mir anmerken lasse, dass ich mir Sorgen mache, wird er sofort alles abstreiten. Wenn ich könnte, wenn er mich lassen würde, dann würde ich ihm sofort bis ins Wohnzimmer helfen. Er sieht aus, als würde er bald zusammen klappen und sich vielleicht nicht mehr bewegen. Es fällt so schwer nichts zu sagen. Ok. Okay, ich – ich glaube, ich weiß, was ich machen kann. Mein Körper ist längst schneller als der Rest, steht schon in der Küche und wühlt unter der Spüle den Erstehilfe-Kasten hervor. Ich glaube, damit kann ich ihm immerhin etwas helfen. Er hat wirklich keine Zeit verschwendet, ist umgehend in meinem kleinen Bad verschwunden und hat die Tür hinter sich geschlossen. Er hat sich nicht eingeschlossen, das weiß ich aber … einfach rein gehen? Nein, lieber nicht. Wie so oft lege ich den Kasten einfach vor der Tür ab, als ich schon das leise zerschellen von Keramik hören kann. Er ist wütend, extrem wütend und wenn ich das ein wenig einschätzen kann, dann – dann ist er wütend auf sich selbst. Er schlägt ein ganz paar Mal auf die Fliesen vor sich ein. Mal wieder. Je öfter er das macht, desto mehr sinkt mein Blick. Es ist so falsch, was er da macht, das ist es immer. Warum wird er so wütend, wenn man nur einmal sieht, dass er auch schwach sein kann? Hält er sich nur für stark, wenn er genau das auch ausstrahlt? Das ist so falsch, so unendlich falsch! Zögernd, eine leicht geballte Hand an der Tür vor mir aufstützend, entscheide ich mich doch dagegen. Nicht nur Lex kennt diesen Dummkopf nun schon so lange. Das Letzte, was er jetzt wohl braucht, ist jemand, der sich offensichtlich Sorgen macht. Also nehme ich meine Hand herunter, wende mich wortlos ab und setze mich zurück zum Sofa. Ich … versuche nochmal zu spielen, schalte wieder alles an, in der Hoffnung, dass sich Harm irgendwann einfach dazu setzt … und vielleicht mal offen sagt, was das jetzt schon wieder sollte. Er hatte Blut an sich, ich weiß nicht woher, ob es seines war oder das von wem anders. Er legt es in letzter Zeit immer mehr und mehr darauf an, dass man einfach nichts mehr über ihn weiß - lässt immer seltener jemanden an sich heran. Er nimmt den Kasten mit einer knappen Bewegung zu sich ins Bad. Ich habe nicht mal etwas sehen können, nur das Schließen der Tür war laut und deutlich zu hören. Seine Wut da drinnen lässt mit der Zeit nach. Es scheint ihn etwas zu beruhigen, sich seine Wunden sorgfältig verbinden zu können. Stimmt … ich wollte spielen und habe die PS4 inzwischen auch an a-aber … der Ton ist eben aus und außerdem … ach, was mache ich mir da eigentlich vor? … Ich will endlich wissen, ob es meinem erklärten Bruder besser geht wie er ausgesehen hat und auch wissen, weshalb er überhaupt so aussieht. Meine Rechnung geht mit der Zeit auf. Das Spiel läuft zwar eher stockend aber Harm kommt zu mir auf's Sofa, sobald er fertig ist und sich normal, ganz ohne Wut in sich, setzen kann. E-E-Er ist … wieder ganz normal, s-so wie immer halt. „Was los, heute kein Talent zum Zocken?“, lacht er mich aus, versucht mich zu reizen … ohne Erfolg. Ich … mir ist weder nach Lachen zumute, noch nach irgendwelchem Ärger. Er ist immer so, einfach immer. Ich könnte echt heulen, ihn so zu sehen und das obwohl, oder wohl gerade weil er so breit Lacht, breit und völlig verschlossen. Er schweigt danach wieder, muss gemerkt haben, dass mir das nicht so egal ist wie ihm. Mein Blick hat sich indessen auf seine Hand fixiert. Mit der muss er auf mein Bad eingeschlagen haben, welches mal wieder neue Fliesen brauchen wird. Ich blicke nur einmal kurz in seine Richtung, nicht mal bis in sein Gesicht, aus Angst, sein Ausdruck würde mir das verbieten, was ich gerade tun will. Er formt genau diese Hand immer wieder zur Faust und öffnet sie dann wieder, damit das Blut von seiner Hand tropft. Mein Controller liegt schon längst an der Seite, völlig fern, als ich mich direkt vor den Punker begebe und mir unsicher genau diese Hand greife. Ich hoffe, er weiß inzwischen wirklich ganz genau, dass ich keine Ahnung davon habe aber was kann man schon groß falsch machen, wenn die Wunden sauber sind? Ich weiß es nicht, ist wohl auch besser so. Am Ende würde ich es mir wohl nur wieder überlegen und aufstehen. Harmony sagt nichts dagegen, hat keinen blöden Kommentar für mich über, als ich seine Hand mit den meinen berühre und an mich nehme, um besser darauf schauen zu können. Er hat sogar daran gedacht den Kasten zurück zu bringen, hat ihn neben sich liegen, offen. Er muss wohl damit gerechnet haben oder wollte das eben vielleicht noch selbst machen. So oder so ist das jetzt meine Aufgabe, vor ihm kniend und auf seine Hand fixiert. Ich weiß, dass er wieder Grinst, offener als zuvor, weil ihm seine Position so unendlich gefällt a-aber macht es die Situation wirklich besser? Er lässt mich das hier ohne Hilfe oder Anweisungen seinerseits beenden … und genau so sieht seine Hand auch aus. O je, das sorgt bestimmt nur dafür, dass er sich die Wunden mehr einreißt oder so a-aber ich wollte doch nur … ich wollte eigentlich nur erreichen, dass er endlich spricht. Harmony soll doch nur … Sein Blick auf mich hat sich geändert, als könnte er meine Gedanken lesen. Er bemitleidet mich, ich meine MICH und das obwohl ER hier auftaucht und kaum laufen kann. Kopfschüttelnd will ich die widersprüchlichen Gedanken aus mir heraus bekommen, so reagieren, dass sich der Kleinere noch wohl genug fühlt, um nicht abzuhauen. „Gehst – Gehst du hoch?“, presst sich gequält, halb stimmlos aus meiner Kehle. Er behält die Ruhe bei, spricht ganz leise: „In dem Zustand? Vergiss es! Er würde nur fragen …“ „ … und du lügst nicht, schon verstanden.“, unterbreche ich ihn, ihn und seine sogar fast schon besorgt klingende Stimme. Ich hingegen muss beleidigt, eingeschnappt klingen aber auch um keinen Grad lauter als zuvor a-also vielleicht sogar … verzweifelt … Die Verzweiflung weicht nicht, als er mich dann auch noch in meinem Vorhaben aufzustehen und ihm Decken holen zu wollen unterbricht. „Nein, nein Bro, ich gehe mal wieder zu mir, kein Ding.“ Ich bin wirklich nicht weit gekommen, habe doch nur meine Beine etwas angespannt und ein wenig bewegt, um aufstehen zu können, da hat er mir das schon gesagt. Gefühl fließt aus meinen Beinen und mein Blick senkt sich erneut. Er senkt sich bis auf den Boden unter unseren Füßen. Nein, verdammt a-also wird er wirklich … er wird wieder gehen, schon wieder. Mein Körper ist irgendwie erstarrt und will auch nicht mehr auftauen. Der vor mir hat mir seine eben verbundene Hand auf den Kopf gelegt, hat sich aufgestützt, um mit Nachdruck aufzustehen. Er zerwühlt mir mein Haar, leicht, sacht … schwach … und schmunzelt, doch so eindeutig, dass es nur eine einzige Aufgabe erfüllt. Überzeugung. Ich glaube ihm wirklich fast, dass er sein Lächeln ernst meint. Aber … ich merke, wie sehr er sich auf mir abstützen muss, wie schwer es ihm fällt aufzustehen und ich Lexy wie immer nichts sagen darf. Wenn ich es aber tue, wird er auch nicht sauer, na ja manchmal aber nicht lang genug. Wichtig ist nun aber nur, dass ich eins weiß: Egal was ich jetzt sagen würde, er würde eh nicht hier bleiben. Verdammt … was geht denn jetzt falsch bei mir? Er hat losgelassen und ist ohne Kommentar Richtung Tür verschwunden. Kopfschüttelnd verdränge ich das leicht verschwommene Bild vor meinen Augen, stehe auf, muss tief durchatmen, damit da nicht wieder sinnlose … na ja … und sobald die Tür nach draußen laut geschlossen wurde, habe ich mich sofort wieder ans Spiel gesetzt. Dann eben nochmal von vorne. Wo war ich eben noch … ach ja, die Wände rauf, um besser ans Ziel zu kommen …
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