Das ganze Wochenende über lag ich da, genau an dieser Stelle, wo mich beide zurückgelassen haben. Ich hatte nicht den Mut, dem Wunsch meiner Mutter gerecht zu werden. Ich habe mich nicht getraut, das zu vollenden, was sie sich am meisten gewünscht hat.
Ich war in der Lage mich an diesen Tag heute zu erinnern, der Tag, an den jedes kleine Kind denken sollte. Ich habe es gewagt mich zu erheben, ohne mir das Leben zu nehmen. Andererseits müsste ich es ja auch nicht, weil ich keine Mutter habe, die es sich hätte wünschen können. Sie selber hat es gesagt. Ich bin nicht ihre Tochter. Ich bin nur die Tochter meines Vaters, des Vaters, der nun auch nicht mehr da ist und noch dazu regungslos vor mir liegt. Ich bin gerade noch in der Lage mir die neue Jacke von einer der Lehnen zu nehmen. Ich erinnere mich, dass ich die heute hätte anziehen sollen, vergesse aber die Schuluniform, die noch am Kleiderhaken hängt. Ich werfe sie mir in einer Bewegung über und schließe sie. Die Jacke ist lang genug, um meine kurze Hose gleich mit zu verdecken. Der Rest des Blutes verschwimmt im vorbeiziehenden Regenschauer. Ein Platzregen, der selten stark für diese Gegend ausfällt. Es ist, als wolle der Himmel mir sagen, was ich das ganze Wochenende über vergessen habe. In der ganzen Zeit, habe ich keine einzige Träne vergossen. Ich lag da, nur da und starrte an die Decke. So wie ich zur Schule laufe, fällt mir endlich der neben mir auf. Thor. Er muss mich schon seit dem Verlassen des Ladens begleitet haben. Sein Fell ist nass, doch er schüttelt sich nicht. Er richtet seine volle Aufmerksamkeit auf mich, auf mich, meinen starren Körper und meine noch immer erweiterten Augen. Er weicht keine Sekunde von mir. Als wir endlich vor dem Gebäude stehen, einem unglaublich großen Gebäude, in einem hellen Anstrich, scheint auch schon wieder die Sonne über uns. Die Wand ist so hell, dass sie die Strahlen gleich mit reflektiert und mir direkt in die Augen. Ich schaue hinein, ziemlich lange hinein, bis eine Gestalt vor mir auftaucht. „Ah, da bist du ja. Ich dachte schon, du kommst nicht. Wo sind denn deine Eltern? Bringen sie dich nicht? Man, du hast es vielleicht gut.“ „Ja.“, antworte ich ihm lediglich. Er merkt kaum, wie abwesend ich bin, so sehr freut er sich auf heute. Ich muss lange überlegen, bis ich ihn überhaupt erkenne. In meinem Kopf dreht sich nach wie vor alles. Ich weiß nicht mehr wer wer ist oder wo ich bin. Ich habe sogar vergessen, warum ich hier bin, vor diesem strahlenden Gebäude, vor diesen hohen Stufen, die uns hinein führen. „Na komm schon. Wenn wir dürfen, sitzt du dann neben mir?“, fragt er mich ganz aufgeweckt. „Ja.“, tue ich es wieder. Würde ich verstehen, was alles um mich herum passiert, hätte ich vielleicht auch gesehen, wie in ihm irgendetwas zerbrochen ist, als ich ihm meine Antwort gegeben habe. Er hat es also doch gemerkt und ließ vor Schreck sogar meine Hand los. Für den Moment, doch dieser Moment vergeht und er nimmt sie wieder, diesmal sogar mit beiden Händen. „Na los, lass uns – lass uns lernen wie man schreibt.“, zeigt er jetzt sogar seine Unsicherheit. Ich folge ihm einfach, doch er lässt nicht los. Im Gegenteil sogar, sein Griff wird ungemein fester. Gerade als wir hinein wollen, kommt uns eine Lehrerin entgegen. „Ah, da seit ihr beiden ja. Kommt schnell rein, bevor es wieder regnet. Oh? Na wer bist du denn?“, begrüßt die Frau meine vierbeinige Begleitung freudig. Sie scheint Tiere zu lieben, genauso wie ich. „Na, sage nur dein Hund hat dich bis hier her gebracht. Dann muss er aber ein sehr lieber sein. Das sieht man ihm ja gar nicht an. Nur … was machen wir jetzt mit ihm? Er kann nicht mit hinein kommen.“, erklärt sie uns oder besser gesagt mir freundlich. Thor entspannt sich endlich etwas. Er hat seine Blicke zwar noch immer auf mich gerichtet, doch schafft es zumindest sich endlich zu schütteln. Gleich darauf geht sie der großen Tür aus dem Weg und legt sich auf den breitflächigen, weichen Abtreter. Er bleibt einfach so da liegen und macht nichts mehr weiter. „Hmm? Was ist denn?“, kommt nun schon eine zweite Lehrerin an. Auch sie sieht Thor und wie sich unsere Lehrerin gerade fragend aufrichtet. „Na, das ist wohl Thor, richtig?“, fragt die zweite Frau mich. „Ja.“ „Ja aber Hunde sind in der Schule nicht erlaubt.“, gibt unsere Lehrerin der anderen zu bedenken, doch diese winkt nur ab. „Ach, machen Sie sich nichts daraus. Thor ist ein sehr braver Hund. Er passt immer auf die Kleine auf. Meine Eltern kaufen immer bei ihnen im Laden ein, daher kenne ich sie auch ein wenig.“ Nun beugt sich die zweite, die uns anscheinend kennt, zu uns herunter. „Wenn Thor will, kann er bis Schulschluss hier auf dich warten, Hauptsache er tut niemandem etwas.“, zwinkert sie mir breit grinsend zu. „Ja.“ Auch die beiden Frauen sind etwas irritiert über meine Antworten. Sie schauen sich gegenseitig an und zucken dann lediglich mit ihren Schultern. Unsere Klassenlehrerin bringt uns bereits hinein, als die andere Frau sich zu meinem Hund herunter beugt. Sie fährt ihm über sein Fell und er genießt es wie immer, wenn ihn jemand berührt. Als sie ihre Hand von ihm nimmt und darauf schaut, wirkt sie etwas verwundert. „Hmm? Was ist das denn? Farbe?“, begutachtet sie die inzwischen braun gewordenen Krümel in ihrer Hand. Sie beschließt einfach hinein zu gehen und sie abzuwaschen. Der Junge mit dem weißen Haar und ich haben nur noch einen Platz ganz vorne bekommen. Alle hinteren waren bereits besetzt. Als ich in die Runde geschaut habe, kamen mir einige bekannt vor, doch dann auch wieder nicht. Meine Gedanken reichen nicht so weit, dass ich sie weiter beachten würde. Ich setze mich einfach auf den Stuhl und der andere sich direkt rechts neben mich. „So meine Kinder, es hat ja eh bereits geklingelt. Seit jetzt bitte alle still. Wir werden uns in der ersten Stunde heute erst einmal alle kennen lernen. Jeder fertigt sich jetzt bitte ein Schild an, auf dem sein Name drauf steht. Ich muss euch schließlich auch erst einmal alle kennen lernen.“, erklärt sie uns ganz lieb. Es werden Blätter durch die Bänke gereicht, welche wir nutzen können, nur Stifte gibt es keine dazu. Der Frau ist bis eben nicht mal aufgefallen, dass ich keine Schulsachen mit dabei habe. Sie entschuldigt es mir natürlich sofort und völlig automatisch wendet sich schon der Weißschopf an mich. „Wenn du nichts mit hast, willst du dann meine Sachen mit nutzen?“, hat er mich genauso lieb gefragt. „Ja.“ Er freut sich und stellt all sein Zeug in die Mitte. Ich nehme mir einfach irgendeinen Buntstift daraus. Rot, es ist ausgerechnet rot, genauso wie das Blatt vor mir. Meine Augen gehen ganz automatisch wieder weit auf, doch ich habe zumindest noch genug Vernunft in mir, um mir noch einen Stift zu wählen. Schwarz. Langsam bleibt mir der Atem stehen, doch ich nutze, was ich mir gezogen habe. „Vergesst nicht schöne Schilder zu machen. Ihr könnt sie gestalten wie ihr wollt.“, fordert sie alle liebevoll auf. Also zeichne ich auf, was mir gerade so durch den Kopf geht und dazu meinen Namen, den ich mit Vater schon fiel geübt habe. Der neben mir ist so in seine Arbeit vertieft, dass er die meine nicht mal beachtet. Nur in einem Moment schaut er mal nach unten. „Hä? Warum hast du denn nicht mal Schuhe an?“, wundert er sich laut, was die anderen alle aufschauen lässt. Ich kann ihre Blicke in meinem Rücken spüren. Sie fühlen sich ähnlich an wie die von … Alle hinter uns tuscheln. Was ist denn mit der? Wie sieht die denn aus? Was hat sie? Warum trägt sie keine Schuhe? Und und und … Letztendlich wundert sich sogar die Lehrerin. Sie stellt sich neben meinen Platz. Ich verdecke noch gerade so mein 'Kunstwerk' mit einem meiner Jackenärmel. „Wie seltsam. Hast du deine Schuhe denn vergessen?“ „Ja.“, starre ich weiter geradeaus und antworte ihr im gleichbleibenden Ton. Eh sie zu noch etwas anderem kommt, sieht sie auch schon, wie sich mein Blatt voller Wasser gesogen hat. „O je, sieh nur, deine schöne Zeichnung. Deine Jacke ist ja pitsch nass, na komm, zieh die mal lieber aus.“, fordert sie mich besorgt auf. Ich stehe natürlich sofort von meinem Platz auf. Sie geht bereits wieder nach vorn an ihren Platz, direkt dem unseren gegenüber und sucht etwas aus ihren Unterlagen heraus. Ich ziehe mir wie aufgefordert die Jacke aus und stehe dann völlig ohne vor ihr. „Ich werde mal bei euch zu Hause anrufen, sie bringen dir bestimmt alles …“ Ihre Stimme unterbricht. Noch immer stehe ich neben meinem Platz. Meine Blicke sind dem Boden zugewandt. Sogar mein Banknachbar ist völlig verstummt. Er ist auf seinem Platz bis ans äußerste gerutscht und hält sich vor Schreck den Mund zu, genauso wie die Lehrerin. Beide Augen sind weit geöffnet und ihre Pupillen verengt. Es regt sich so lange keiner, bis eine Blondine aus den hintersten Reihen lauthals anfängt zu schreien. Unsere Klassenlehrerin legt mir umgehend wieder die Jacke um die Schultern, bis nun auch die zweite Lehrerin erscheint, welche durch den Schrei aufmerksam geworden ist. Sie zeigt die selbe Reaktion. Inzwischen ist mein Kopf leer. Nichts mehr ist darin, woran ich denken müsste, nichts von alle dem existiert mehr. Vor der Tür schauen die beiden Frauen noch immer voller Entsetzen auf mich. Sie sehen das viele getrocknete Blut. Mein ganzes Oberteil und meine ganze Hose ist damit übersät, vorn wie hinten und auch an meinen Armen – eben überall da, wo der Regen nicht dran kam. Von irgendwoher kamen die Geräusche von Sirenen. Mit den Sirenen wurde auch Thor laut. Er kam in den Flur der Schule gerannt und hat sich knurrend vor mich gestellt. Die anderen Lehrer und Lehrerinnen mussten sich vor die Türen ihrer Klassen stellen, damit keines der anderen Kinder noch etwas mitbekam. So sahen auch sie alle, wie mein Körper ausschaute. Die Männer in grüner Uniform waren fast dazu bereit Thor zu erschießen, um an mich heran zu kommen, bis eine der beiden Lehrerinnen das Ruder übernahm. Sie sagte ihnen, dass es nicht klug wäre, ihn mir auch noch zu nehmen und zeigte ihnen anschließend meine Zeichnung. Darauf war ein Messer abgebildet, ein Messer und zwei Köpfe. Der eine Kopf hatte Zähne wie ein Hai und der andere wurde von einem Herz umschlossen. Überall auf dem roten Papier zeichneten sich rote Spritzer wieder. Es war leicht die Zeichnungen zu deuten, weswegen die Männer der Lehrerin den Hund überließen. Sie hat ihn beruhigen können und ihn dann ganz fest an sich gedrückt, damit er sich nicht mehr losreißen konnte. Als Thor sah, wie die Männer mich befragten und mit sich nahmen, fing er wieder an zu bellen. Er biss sogar die Frauen, doch zu spät. Ich weiß, dass er dem Wagen bis zur Wache hinterhergelaufen kam. Ich habe ihn noch gesehen, wie er vor der Tür stand und laut bellte und tief knurrte. Ich weiß nicht, wie lange ich bei ihnen war aber Thor war danach noch immer vor der Tür. Die ganze Zeit über hat es in Strömen geregnet, so wie es sonst fast nie regnet. Er ist keinen Zentimeter von der Tür gewichen und hat die ganze Zeit über gewartet. Am Ende ließen sie ihn zu mir, doch mehr als 'Ja' habe ich nicht von mir gegeben. Sie untersuchten den Laden und dann folgte eins dem anderen …
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