„Darf ich denn auch wirklich wieder mit in den Laden?“
„Aber natürlich mein Schatz. Deine Mama war doch nur so böse, weil sie vorher nichts davon gewusst hat. Sage ihr das nächste Mal einfach vorher Bescheid, okay?“ „Ja.“, freue ich mich einfach nur. „Außerdem wird sie doch unheimlich stolz sein, wenn sie erst mal sieht, wie fleißig wir zwei das Lesen und Schreiben geübt haben, damit du besser helfen kannst und schon ein bisschen etwas für die Schule weißt.“ „Ja genau.“, freue ich mich immer mehr, denn ich weiß nur zu gut, wie mühselig das ganze lernen der letzten Woche war. Als wir direkt vor dem Laden stehen, spricht Vater noch einmal zu mir. Er beugt sich wieder zu mir nach unten und wiederholt sich so wie jedes Mal, „Sei bitte einfach nur wie immer lieb zu den Kunden und vergiss nicht ihnen mit einem lauten, deutlichen Ja zuzustimmen. Sei ein braves Kind, okay mein Schatz?“ Ich lächle nur und laufen dann durch die Vordertür. Heute hat mich schließlich Vater vom Kindergarten abgeholt und mit ihm gehen wir immer den normalen Weg zum Laden. Die Blüten der Bäume sind fast komplett verschwunden. Für mich heißt das einfach nur, dass es schon sehr bald, sehr warm werden wird. Trotzdem die einzelnen Strahlen, die durch jede Öffnung der Baumkronen fällt, genieße ich vollkommen. Zumindest … so lange das noch geht. „Na Kleines, bist du also doch wieder zur Vernunft gekommen?“, will Mutter freundlich von mir wissen, doch als ich sie mir so ansehe, bemerke ich eine Veränderung. Ich sehe nicht was genau, denn schließlich ist sie trotzdem noch freundlich zu mir aber etwas stimmt heute nicht mit ihr. Trotzdem laufe ich weiter auf sie zu, gehe nach hinten in die Backstube, lege mir die blaue Schürze um und lasse sie mir von ihr zu binden. Erst dann kommt auch Vater zu uns und sie geben sich komischerweise keinen Kuss zur Begrüßung. Ich verstehe langsam gar nichts mehr. Er läuft nach hinten und beginnt ohne eine Miene zu verziehen mit seiner Arbeit. Ich tue es ihm Gleich. Heute zum Freitag kommen wieder sehr viele Kunden, weil sie für das Wochenende gern vorsorgen. Das bedeutet nur gutes für unser Geschäft und für gewöhnlich, wenn ich zu Mutter herüber sehe, strahlen genau an solchen Tagen ihre Augen noch heller. Heute jedoch scheint wie ein Fluch auf ihr zu liegen. Ihr rollt kein einziges Mal ein wirkliches Lächeln über die Lippen, außer diese künstlich verstellten. In ihrer Pause kommt auch der Junge wieder. Er fragt wie jedes Mal ganz lieb nach und natürlich gebe ich ihm, was Mutter aufgehoben hat. Mir fällt auf, dass es ziemlich wenig geworden ist und ich fühle mich irgendwie schuldig deswegen. „Hier, dein Geld.“, hält er es mir schon hin, doch ich weise sofort ab. Ich halte sogar beide Hände hoch und wedle mit ihnen vor meinem Körper. Irritiert durchbohren mich seine verschiedenfarbenen Augen, eh er seine Hand mit dem Schein zurück zieht. „N-Na gut aber eigentlich … ach, nicht so wichtig.“, wirkt er nun geknickt was sich aber sofort ändert, als er meine zukünftige Schuluniform am Haken hängen sieht. „Also dann, wir sehen uns wohl Montag wieder, richtig?“ „Ja.“, sage ich zwar und nicke ihm zu, so als ob ich wüsste was er meint, weiß es aber eigentlich überhaupt nicht. So oder so ist die Pause meiner Mutter vorbei. Ich wende mich also schon wieder dem Tresen zu, als ich nicht mehr bemerke, was der gleichaltrige Kunde hinter meinem Rücken noch tut. Ich konzentriere mich allein darauf, dass Mutter endlich wieder lächelt. Also stehe ich an ihrer Stelle vor der Kasse und lächle sie an. „Mama, Mama!“, rufe ich ihr zu. Sie sieht mich aufmerksam musternd an. „Überlasse das doch ruhig mir heute, ich kann inzwischen ganz gut lesen und rechnen auch.“, gebe ich stolz an. Ihr Blick wird zwar liebenswert weich aber es sieht schon wieder falsch aus. „Ach mein Schatz, lass das doch. Wir können es uns nicht mehr leisten irgendwelche Fehler zu machen. Wenn du dich nun doch verrechnest … ach No, du hilfst mir wirklich mehr, wenn du bei deinem Kuchen bleibst.“ Wie enttäuschend. Sie traute mir also nicht mehr zu. Ich fühle mich nun mehr wie eine Last, als eine Hilfe aber das will ich ihr nicht so offen zeigen. Also lächle ich beständig und gebe mein bestes in dem, was ich ihrer Meinung nach am besten kann. Es sind noch 2 Stunden bis das Klingeln der Türglocke verstummt, dann wird der Tag auch vorbei sein. Die letzten paar Minuten, in denen nur noch eins, zwei Kunden übrig sind, wendet sich dann Mama doch ab. „Schatz?“, fragt sie mich mit schulderfüllter Stimme. „Ja?“ „Tut mir leid wegen erst. Wenn du magst, kann du die letzten Kunden gern übernehmen, dann kann ich schon die Abrechnung hinten machen.“ In meinen Augen lodert wieder Hoffnung auf und ich grinse bis über beide Ohren als sie mir das sagt. Ich stimme natürlich sofort zu und sie begibt sich nach hinten. Die einzigen Kunden, die jetzt noch übrig bleiben, sind alles nur ältere Herren und Damen. Sie sind sehr großzügig mit ihrem Trinkgeld und helfen mir etwas beim rechnen. Zusammen kriegen wir das also doch noch geregelt. Ich begleite die 3 nach draußen und schiebe die Tür hinter ihnen zu. Einen Stuhl ziehe ich vom Tisch weg und vor die Tür, um schon abschließen zu können und das Schild von 'Offen' auf 'Geschlossen' wenden zu können. Eifrig räume ich diesen dann auch noch weg und will Mama und Papa Bescheid geben, als mir eine auffällig laute Stimme den Weg versperrt. „Verdammt, das wird und wird nicht besser!!! Wie sehr ich diesen Laden doch hasse!!!“, flucht eine Stimme nebenan ohne Rückhalt. Genauso irritiert wie ich, löst sich Vater von seinen neuen Rezepten. Er geht geradewegs an mir vorbei und sofort ins Büro. Ich sehe durch die große Scheibe hindurch, wie er versucht sie zu beruhigen und in den Arm zu nehmen. Genauso bekomme ich aber auch zu stehen, wie sie ihn mit beiden Armen und voller Kraft von sich stößt. „Fass mich nicht an! Das ist so widerlich, ich halte es nicht mehr aus!“ „Aber wovon sprichst du denn Liebes? Dieses Geschäft hier war doch immer unser Traum.“, redet er beharrlich, beständig auf sie ein, ohne seine Fassung u verlieren. „UNSER Traum?! Hast du völlig den Verstand verloren? Das war immer nur DEIN Traum! Ich wollte immer nur … wir liegen nur noch in den roten Zahlen. Seit Monaten gibt es nichts anderes mehr!“ „Aber Schatz, das bekommen wir doch wieder hin.“ Ihre Augen sind feurig und voller Hass und Verzweiflung. Sie sieht direkt in Vater's Gesicht und trotzdem bleibt er ganz ruhig. Wie ich sagte, sie lieben sich und sind das perfekte Paar. Sie vertragen sich bestimmt wieder. Also getraue ich mich auch endlich zu ihnen, bleibe aber im Türrahmen stehen. „Mama, Papa, was habt ihr denn?“ „Ach nichts meine Kleine, es ist …“ „ … alles deine Schuld!!!“, ertönt wieder Mutter's Stimme und ich erstarre sofort. Mein ganzer Körper reagiert nicht mehr, nicht mal mein Kopf weiß, was er dazu denken soll, als sie eins, zwei Schritte auf mich zu kommt. „Ja meine Kleine …“, wird ihre Stimme immer tiefer und angsteinflößender, „ … es ist alles deine Schuld! Deinetwegen kommen keine Kunden mehr, deinetwegen! Weil alle Eltern und alle Kinder Angst vor dir haben, will niemand mehr unsere Wahren kaufen. Sogar der Kindergarten hat uns alles gekündigt! No hier, No da, No stiftet alle Kinder an, No macht allen Angst, No starrt immer nur alle an und verjagt sie so … alle haben sie Angst vor dir!“ Auch für Vater ist diese Situation neu. Er weiß auch nicht, was er dazu denken soll, wie er handeln sollte oder was er sagen sollte. Er steht da wie angewurzelt und hört genauso gut wie ich, wie ihre Stimme immer zittriger und tiefer wird. „Na, na Liebes, übertreiben wir es mal nicht mit den Anschuldigungen. No kann doch überhaupt nichts dafür. Sie ist doch noch viel zu klein dafür.“, versucht Papa noch immer ruhig zu handeln, doch sogar seine Stimme zittert. Ich glaube so wie heute, so haben sie sich noch nie gestritten und das fängt an mir Angst zu machen. „Zu klein?! Gerade das macht sie ja so psycho! Ich kann das nicht mehr, ich kann so eine Tochter einfach nicht lieben! Das ist zu viel. Zu viel, zu viel, zu viel!“, kommen ihr nun sogar schon verbitterte Tränen und mir, aus welchem Grund auch immer, genauso. Ich verstehe meine eigenen Gefühlsregungen nicht, weil ich so etwas bisher noch nie hatte. Ich weiß nicht was tränen sind. Durch meine verschwommenen Augen hindurch, sehe ich nur, wie sich Papa schützend vor mich stellt. „Liebes, Liebes, ganz ruhig.“, dabei versucht er ihr wieder an die Schultern zu fassen und sie so dazu zu bringen ihn anzusehen. Es klappt nicht. „Ich sagte doch, fass' mich nicht an!!!“, wird sie mit einem Mal ungehalten laut. Sie reißt sich wieder los und dreht sich weg, um eins, zwei Mal durchatmen zu können. Vater scheint schon zu hoffen, dass sie endlich reagiert hat aber Irrtum. Als sie langsam, mit zwei teuflisch blitzenden Augen auf schaut und wir beide es kaum sehen können, greift sie mit einem Ruck, mit nur einer Bewegung, nach einer von Vater's Koch Trophäen. Ein vergoldetes Messer. Erst als sie wieder zu uns schaut, zuckt mein Körper wieder und das so stark, dass ich jeden einzelnen Knochen zu spüren bekomme. In meinen Augen sieht sie aus wie ein Dämon, wie ein wütender, überkochender Dämon. „Sch-Sch-Schatzt …“, wird auch Vater seine Atmung ganz verängstigt., „ … a-a-alles ist gut. Wir bekommen das wieder hin, versprochen.“ „Wir bekommen das wieder hin? Das wird NIE MEHR etwas werden! Geh mir aus dem Weg! Sie ist an allem Schuld. Seit Monaten können wir kaum etwas Essen, weil uns alles und jeder abhaut. Nicht mal mehr Freunde haben wir, weil sie sich vor ihr fürchten. Jeder nimmt Abstand von ihr und so auch von uns. Also …“, erneut wird ihre Stimme tief und boshaft, unbeschreiblich, wie die Stimme einer Kranken, „ … also … beseitigen wir doch den Schandfleck denn so – denn so eine Tochter, die will ich nicht haben! Ich habe mir immer eine Tochter gewünscht aber das da … das ist nicht mein Kind!“ Und noch mehr Tränen bahnen sich den Weg durch meine Augen. Sie lassen mich nur noch das sehen, gerade so erkennen, was aus ihrer aufgestauten Wut folgt. Sie greift mit beiden Händen fest um den Griff und macht mit einem Aufschrei einen Satz nach vorn. Vater stellt sich noch weiter vor mich und breitet sogar seine Hände aus, doch das hält sie nicht auf. Ich kann hören, wie die Klinge in etwas eindringt und auch sehen, wie ein Wall an roter Flüssigkeit sich aus meinem Vater ergießt. Ihre eben noch so schmalen Augen sind nun weit offen, beide, fast so, als wollen sie ihr raus fallen. Auf ihren Lippen findet sich ein breites Lächeln wieder, welches all ihre Zähne zum Vorschein bringt. „Was denn? Stellst dich schützend vor deine Tochter. Willst wohl noch vor ihr sterben oder wie?! Wenn dir das so lieber ist! So oder so, wird dieser Laden untergehen.“, kreischt sie auf. Vater hingegen scheint sich an irgendetwas festzuhalten. Sie haben sich inzwischen auch so gedreht, dass ich alles sehen kann. Vater hat versucht sie von mir abzuwenden, doch das Ergebnis bleibt das Gleiche. Es hat ihn getroffen und nun, nun kann ich es sogar sehen, weil meine Tränen verstummt sind. Dafür jedoch zittert nun mein ganzer Körper. Vater hat beide Hände um das Messer gelegt, welches in seinem Unterleib steckt. Die Klinge hat sich hinein gebohrt und seine Finger gleich mit auf gerissen, doch er gibt nicht nach. Alles in diesem Büro ist blutgetränkt. Ich wage nur einen kleinen Schritt nach hinten, der einzige, der mir überhaupt möglich ist und rutsche sofort aus. Auch hinter mir haben sich durch den Einstich kleine, wirklich minimale Flecken ergeben. Mit einem Satz sehe ich nur noch die Decke über mir, die weiße Decke. Allein Mutter's Aufschrei, anders als all die anderen bis eben, lässt mich meinen Kopf bewegen. Im gleichen Moment stürzt Vater zu Boden. Das Messer ist nicht mehr in ihm. Zwischen all dem Rot, blitzt es jedoch noch immer hervor. Diesmal ist es Mutter, die es in genau der selben Stelle stecken hat und auch erst dann, hallen die Worte meines Vaters wieder. „Du … wirst m-meine … Tochter nie … be-bekommen!“, hat er unter letzten Qualen zwischen all dem Blut in seinem Mund hervor pressen können. Der Anblick dessen Worte, dessen Moment, lässt meine Augen bis auf's Äußerste erweitern. Keine Tränen sind mehr da, keine Mimik, keine Gestik. Alles an mir ist tot … genauso tot wie Vater, als er seinen letzten Atemzug über die Lache unter ihm abgibt. Trotzdem, trotz allem was Vater in seinem letzten Moment versucht hat, steht Mutter noch – die Frau, dessen Kind ich nicht mehr bin, nur weil ich bin, wie ich bin. Obwohl beide der selben Verletzung erliegen, so scheint ihr Wille, mich aus dieser Welt zu reißen, groß genug zu sein, um sich noch bewegen zu können. Langsam setzt sie einen Fuß vor den anderen. Ihre Zähne zeigt sie mir, wie die eines räudigen Hundes. Letztendlich steht sie keine 10cm mehr von meinen Füßen entfernt, als sie endlich inne hält. Sie reißt das Messer aus sich heraus … und fällt im selben Moment zu Boden, zu Boden und direkt auf mich drauf. Das Messer ist ihr aus der Hand gerutscht und sie zeigt keinerlei Regung mehr. Ich habe es nie bemerkt, ich habe nie gesehen, wie sehr meine Mutter unter mir hat leiden müssen. Ich habe nie mitbekommen, dass die Liebe der beiden nur vorgespielt war und das was vielleicht mal echt war, gebrochen wurde – durch mich, weil die Kunden, wegen mir nicht mehr kamen, weil ich war, wie ich war und ich bin, wie ich bin. So viel Verzweiflung kann jedes kleine Kind spüren. All das wäre nie passiert, würde es mich nicht geben und trotzdem … alles was mir noch im Kopf widerhallt, immer wieder und wieder, sind ihre Worte, ihre und die von Vater. „Jemand wie sie … ist nicht meine Tochter!!!“ „Sei immer freundlich zu den Kunden und sage immer ja!“ Mit einem lauten Aufschrei, gefolgt von unbändigen Tränen schaffe ich es Bewegung in meine Glieder zu bekommen. Meine Sicht von Vater und Mutter fällt der Decke über mir zu und meine Arme, die mich bis eben noch gestützt haben, verlieren ihren Halt wegen dem Blut, welches unter mir entlang fließt und über mich hinweg. An diesem Tag habe ich mir die Seele aus dem Leib geweint, doch niemand konnte es hören, niemand war da und es sollte auch keiner da sein. Niemals sollte jemand von mir erfahren könne, was genau passiert ist.
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