So wie er in den Himmel hinauf steigt, erklingt noch einmal seine Stimme, aufbrausend und ohne, dass er vorher darüber nachgedacht haben konnte.
„Fear!“, hat er mir zugerufen. Ich bin erst verwirrt, doch bei genauerem überlegen, kann das kaum ein Fachbegriff für irgendetwas gewesen sein. Sein Name … es war sein Name! Ich lasse mir nicht noch mehr Zeit. Was er sagen wollte, hat er gesagt und ich habe, wie bereits erwähnt, unheimlichen Hunger. Also schließe ich die Tür, gehe durch den Flur bis nach hinten. Inzwischen liegt Sally im richtigen Haus, nicht mehr in der kleinen Laube. Sie fühlt sich sogar nach 2 Wochen immer noch schuldig, denn unser Arzt hatte mal eine Frau hier wohnen. Als sie herausfand, dass er uns Beide da hinten in der Laube versteckt hält, hat sie ihm irgendetwas unterstellt, obszöne Dinge, die man mit seinen Patienten bestimmt nicht machen sollte. Ich selbst saß nur teilnahmslos daneben, habe zugeschaut, wie sie sich streiten und mir dabei die Weintrauben schmecken lassen, die auf dem kleinen Tisch standen. Als die Frau geflüchtet ist, hat er ihr erst nur genervt und entrüstet nachgesehen, doch er war wütender als gedacht. Er ließ es an mir aus, hat mich angefangen anzuschreien, bis er mich ein was fragte: „Schmeckt es denn wenigstens?“ Ahhh ja, da bin ich dann endlich mal zu Wort gekommen. Kurz und knapp, als wäre nichts gewesen, meinte ich: „Joar, schon.“ Er hat sich nur mit einer Hand an den Kopf gegriffen und ihn geschüttelt, dabei atmete er mehrfach durch, bis ihm sogar ein ungewolltes Grinsen über die Lippen huschte. Ich habe ihn damit aufgezogen, so dass er wieder sauer wurde und trotzdem lachen musste. Leugnen über sein Lächeln war nun noch zweckloser als vorher schon. Als ich nachfragte, ob er ihr nicht nachlaufen wolle, entgegnete er mir nur: „Es gibt nichts, wofür ich mich entschuldigen müsste. Wir hatten schon oft Patienten hier hinten liegen. Sie bekommt sich schon wieder ein … hoffentlich.“ Dem war bisher noch nicht so und da er nicht allein sein wollte, hat er Sally und mich ins Haus geholt. Sie haben ein Gästezimmer, ganz hinten im Haus. Man sieht es sofort, wenn man rein kommt. Da hat er dann auch irgendwann einen Tisch dazu gestellt, damit Sally in Ruhe essen kann. Seitdem essen wir alle da. Es kommt mir mehr wie eine Familie vor, als wenn wir zu Hause gewesen wären. Sally hat zu der Zeit geschlafen, trotz des Streits, doch als sie wach wurde und davon erfuhr, hat sie nicht mehr aufgehört sich zu entschuldigen. Er konnte sagen was er wollte, nichts hat gewirkt. Sie muss gespürt haben, dass seine Frau unseretwegen weg war. Ich habe mich einfach neben sie gesetzt und ihr meine Finger in die Knie gerammt. Sie wurde sofort still, dafür wurde der Mann wieder laut – mir gegenüber natürlich. Ich nehme mir etwas vom restlichen Essen. Den Teller dafür hat er mir ja eh schon rausgestellt. Noch bevor ich zu Sally kann, fragt der Mann nach: „Wer genau war das eben?“ Ist das sein ernst? „Sie wissen schon, dass Sie ihn angestarrt haben, als wollen Sie ihn umbringen, oder?“ Er atmet mal wieder tief durch. So langsam habe ich auch das Gefühl, dass mich keine männliche Person der Welt leiden kann … na, was soll's. Kann nur gut für mein Herz sein. „Okay, okay, das war wirklich eine dumme Frage. Dann eben: Wer ist die Kleine?“ Ich erkläre ihm was Sache ist, lasse dabei lieber aus, dass Vater … nicht so wichtig, und sie deswegen diese Nacht hier bleibt. Also ganz kurz: „Sie wollte Sally sehen.“ Er gibt sich damit zufrieden, kommt gleich mit mir mit und hat für Isebell auch etwas aufgetischt. Sie hat unglaublichen Hunger, schlägt sofort zu. Ich setze mich Sally gegenüber, denn mein eigentlicher Platz, direkt auf dem Bett neben mir, ist ja schon belegt worden. „Was hast du so lange draußen gemacht?“, wird der Mann auch noch neugierig! Mich nervt das etwas. Es geht ihn schließlich nichts an. „Wieso fragen Sie?“ „Das weißt du doch ganz genau: Wegen dem Jungen, der bei dir war.“ Sally wird hellhörig, doch noch bevor ich etwas sagen kann, berichtet Isebell mit vielen begeisterten Gestiken, dass da ein Kerl mit Maske und auf komischen rollenden Schuhen war. Ihre Blicke werden ernster und gleichzeitig verzweifelter. „Du – Du hast dich mit ihm getroffen?“, fragt sie nochmal nach, ungläubig, sogar irgendwie enttäuscht. „Was heißt getroffen … das war eher Zufall.“ „Und aus Zufall hat er seine Maske auf? Seroll ist ein ernster King. Er legt seine Sachen nie aus Spaß an. Was genau habt ihr gemacht?“, erhebt die Älteste ihre Stimme. Ich weiß genau, was ihr Problem ist. Also setze ich mich umgehend zu ihr auf's Bett, nehme die Verbände von meinen Knien und zeige ihr die weiterhin zugenähten Wunden. Ihre Stimme wird ruhiger, die Mimik des Arztes genauso. „Wir haben uns nur unterhalten, genauso wie du das heute gemacht hast!“ Sie fühlt sich ertappt, was dem Arzt hinter mir auch wieder nicht gefällt. Ich verstehe, der Mann hat also grundsätzlich etwas gegen diese Typen … und wohl nichts davon gewusst. Danach sind alle still, zum Glück! Eine gewisse Spannung liegt in der Luft aber egal, das Essen schmeckt trotzdem. Den ganzen Abend über hat keiner mehr etwas gesagt. Wir sind zeitig schlafen gegangen, wobei im Gästezimmer nicht mehr genug Platz war. Also habe ich in der Laube geschlafen, wie zuvor auch immer. Trotzdem … ich habe die ganze Zeit über nur durch das Fenster in den Himmel gestarrt. Irgendwie … konnte ich nicht schlafen. In der Schule war auch nicht viel los. Die 3 Jungs haben es mal wieder geschafft mir ein blaues Auge zu verpassen und in der Pause darauf habe ich allein auf der Bank draußen gegessen. Eigentlich ein normaler Tag. Jetzt wo ich wieder im Laden sitze und auf Kunden warte, fällt es mir immer schwerer meine Augen offen zu halten. Ich habe mich auf der Theke mit beiden Ellenbogen abgestützt und meinen Kopf in die Hände gelegt. Heute ist zum ersten Mal wirklich gar nichts los. Zum umschauen und auswendig lernen bin ich fast schon zu müde aber ich versuche es trotzdem. Die Regale stehen voll wie immer. Es sind überall nur kleine Kästchen, die allesamt mit den Nummern und Barcodes beschriftet sind. Darin liegt dann für gewöhnlich auch das beschriftete Produkt. Eben ein Einzelteile-Handel. Ich wende mich dem Regal nahe der Tür zu, lese und schaue mir die Teile ab und zu mal an. Diese vielen Zahlen und Kürzel machen mich ja schon manchmal neugierig. Ich darf sie nur nicht mit bloßen Händen anfassen. Manche Teile könnten dadurch kaputt gehen, noch bevor sie verkauft wurden. Ein paar der Bezeichnungen fallen mir jetzt erst auf. Sie wirken anders … Normalerweise steht so etwas wie Teil X für Asus Y da oder 784317p für Gerät Z. Im ersten Regal jedoch ändert sich die Schreibweise. Auf den meisten Schachteln steht G.-bl.-gr.3, Rh.-26cm-st.-go. oder R.-h1-70mm. Es macht mich neugierig, natürlich macht es mich das, wenn sonst nichts im Laden passiert! Aus einem der oberen Fächer, wo nur diese G.-Teile stehen, nehme ich mir wahllos eine heraus. Wie immer – kleine graue Schachtel, mit einem Gummiband versehen. Als ich den Deckel abnehme, schießt mir sofort das gestrige Gespräch durch den Kopf. In einer 8 zusammen gerollt, liegen da ein paar dieser Kabel drinnen, ähm, Gen's hießen die glaube ich. Das würde das G erklären, schon klar. Mir ist inzwischen ja klar, dass der Mann auch Reparaturen für diese Boots anbietet aber … dass er hier auch Einzelteile direkt im Laden dafür verkaufen würde … wer hätte das gedacht? Ich meine, es scheint ja schon ein ziemlich verrufener Sport zu sein, wobei ich auch nicht verstehe warum. Mir fehlen noch so viele Dinge, das alles ergibt nach wie vor keinen Sinn. Jetzt, da ich diese Einzelteile in der Hand halte, will ich irgendwie noch mehr wissen, was diesen Sport für andere so interessant macht. Die Bezeichnungen der Kartons ergeben immer mehr Sinn. G. für Gen's, bl. für blau aber das gr.3? Vermutlich die Größe. Prüfend schaue ich über meine Schulter. Gut, der Chef ist nach wie vor beschäftigt. Ich nehme noch mehr dieser Schachteln heraus und öffne sie alle. Grüne Gen's, weiße Gen's, violette Gen's. Alle in anderen Längen, stelle ich fest, als ich sie nebeneinander halten. Zwar bringt mich das Wissen nicht wirklich weiter, da ich ja eh nicht fahren möchte aber es macht trotzdem Spaß mehr darüber herauszufinden. Und das ohne fragen zu müssen. Na toll … jetzt habe ich auch noch Spaß daran … Ich lege einfach alles zur Seite und wende mich mal den R.-Schachteln zu. Es sind Rollen drinnen, Räder, war ja irgendwie auch klar. Die 65mm sind dann wohl der Radius und h1? Ein Härtegrad, wird klar, nachdem ich noch mehr ausgeräumt habe. So langsam wird es voll im Regal, weil ich alles nur auspacke und irgendwo hinlege. Egal, schließlich ist da noch eine Beschriftung. Rh. - öffnen – eine Art Gestell ist darin. Ahhh, der Rahmen. Zugegeben, Detektiv könnte ich nicht werden aber was soll's. 26 cm sind die Länge, st. weiß ich nicht, und go. Ist die Farbe. In diesem Falle wohl gold. Wer würde denn so einen Auffälligen Rahmen nehmen? Es gibt auch noch weitaus mehr Einzelteile aber die scheinen dann mehr für das Innenleben zu sein oder verschiedene Schrauben in verschiedenen Größen. Das ist irgendwie wieder sehr viel auf einmal. Dass da Technik drinnen steckt, war mir ja auch klar aber gleich so viel? Als ich dann gerade anfangen will alles weg zu packen und mir sogar die richtigen Beschriftungen zu den Teilen merken konnte, geht nun doch mal die Tür auf. Ich bekomme schon halb Panik, dass das ein einfacher Kunde sehen könnte, als da nur wieder dieser Kerl herein kommt, Fourth, Seroll oder wie er mir gestern noch zugerufen hatte – Fear. Mein armes, flatterndes Herz. Es droht zu zerspringen vor Angst, bis angekommen ist, dass es nur Seroll ist. Was hätte das hier wohl angerichtet, wenn das wer anders gesehen hätte? Ich habe wirklich nicht nachgedacht … scheiße! Als er sieht, wie ich da mit viel zu vielen Einzelteilen herum hantiere, fängt er sofort an zu grinsen. War ja klar! Ich knautsche diese Kabel einfach irgendwie zusammen, damit ich schneller fertig bin und sein Grinsen endlich aufhört. „Hey, nicht, nicht, nicht! Die sind empfindlich! Gerade mit den Gen's geht man vorsichtig um.“, redet und greift er leise dazwischen. Er hat sich ziemlich beeilt mich davon abzuhalten weiter zu machen. Also muss es wohl wahr sein. „Wieso?“, interessiert mich plötzlich irgendwie. Er sieht fragend zur Seite, mustert mich und antwortet: „Ehrlich? Hast du noch mehr Fragen dazu?“ „Ja! Warum sind die Räder so teuer, warum gibt es so unendlich viele verschiedene und was ist dieses st. beim Rahmen?“ Sein Lächeln kehrt zurück, weniger gehässig und nicht so breit. Er trägt wieder nur diese halbe Maske, scheint keine Angst zu haben, dass ich irgendwie mehr deuten könnte. Na ja, das würde ich wohl auch nicht können, da hat er ausnahmsweise mal Recht. „Okay, dann heute also eine Technik-Stunde.“ „Jawohl Herr Oberlehrer! … Kotz!“, flüstere ich den Anhang nur. Er lächelt offener. „Gut also, das st. steht für Stahl. Es gibt die Rahmen in Stahl und Eisenausführung. Außerdem kann man entscheiden, ob man seinen Rahmen mit Chrom legieren will. Sehr praktisch aber auch teurer.“ „Und mit teurer meinst du …“ „Der Rahmen 150€ mit Legierung das Doppelte. Was denn, willst du nun doch anfangen?“ „W-Was n-n-nein! Ich will es nur … wissen. … Neugierig eben.“ „Aaaalles klar. Also von den ganzen Teilen gibt es so viele Größen, weil jeder eine andere Schuhgröße hat. Dem angepasst kauft man sich den Rahmen. Einige wollen aber auch kleinere Rahmen und ziemlich viele nehmen größere, weil sie darauf besser stehen können.“ Er setzt sich daraufhin auf einen der Stühle und nimmt sein Bein hoch. Fourth deutet auf seinen Rahmen, also das, was unter dem Schuh mit den Rollen verschraubt wurde. „Mein Rahmen ist genauso groß wie mein Fuß. Das reicht mir völlig aus. Die Räder haben aus 3 Gründen verschiedene Größen. Man muss sie dem Rahmen anpassen, kann individuell eine Lücke berechnen und je nach Fahrer ist die Reibung wichtig. Größere Räder haben eine größere Reibung, auch wenn der Unterschied nicht so extrem aussieht, merkt man es beim fahren meisten schon.“ Er sieht endlich mal wieder auf und erkennt, dass ich zwar zugehört habe aber nicht viel verstanden habe. „Okaay … bist du gut in Mathe?“ „G-Geht schon.“, murmle ich.fühle mich so konfus. „Dann rechne mal. Ich habe Schuhgröße 45. das macht etwa 29 cm. 3 Räder, 5 Abstände mit 1 cm. Also jeweils zwischen den Rädern und vorne und hinten am Rahmen. Auf den Kartons steht der Durchmesser.“ Ich brauche ein wenig, um das alles überhaupt sortieren zu können aber am Ende kommt da wirklich eine logische Zahl bei raus: „80mm im Durchmesser, also 40 im Radius.“ „So sieht's aus. Und je nach dem welchen Abstand die Scater haben wollen und wie ihr Rahmen aussieht, müssen sie ihre Räder selbst berechnen.“ Also eins muss man ihm ja lassen. Erklären kann er ja schon gut. Bisher habe ich alles irgendwie verstanden, was er erzählt hat. „Warum sind sie also so teuer? Sind doch normale Hartgummi-Rollen oder?“ „Ähhm, jain. Zum Großteil natürlich schon aber würde man nur Hartgummi nehmen, wären sie nach jedem Spiel durch. Du hast gesehen, wie schnell man sein kann. Der Abrieb wäre zu viel auf einmal. Also hat man überlegt, was sie haltbarer machen würde und trotzdem nicht zu schwer wäre. Um es kurz zu machen: Man hat Diamantstaub mit eingearbeitet. Ich weiß, klingt echt übertrieben aber es hilft.“ O WOW … diese kleinen Räder sind ja echt einiges wert! Irgendwie faszinierend, worüber man sich Gedanken machen musste. Ich habe gesehen, wie schnell sie alle fahren aber dass das auch Probleme machen könnte, hätte ich nicht gedacht. „Und deswegen diese Preise. Grauenhaft …“, stelle ich nun auch wörtlich fest. „Ja. Sie haben hohen Wert und wer das weiß, klaut auch mal gerne welche, um sie überteuert weiter zu verkaufen. Man kann richtige Geschäfte damit mache. Einige nehmen aber trotz allem normale Räder, weil sie sich das nicht leisten können oder sich nach jedem Spiel neu um ihre Scates kümmern wollen. Ist ja jedem selbst überlassen. Und … ich weiß nicht, ob dir das auch aufgefallen ist aber die Gen's sind nicht nur verschieden lang, sie haben auch verschiedene Durchmesser, minimalistisch natürlich aber es fällt schon auf, wenn man genauer hinsieht. Länge und Durchmesser sind auch nur verschieden, wegen der verschiedenen Fahrer.“ Ich nehme mir auch einen Stuhl und setze mich ihm gegenüber. Ich glaube, heute kommen keine Kunden mehr. Ich höre lieber zu und stelle die Fragen, die sich mir immer wieder auf tun. „Und woher weiß man dann, welches die richtigen sind?“ „Wenn man damit anfangen will, muss man sich einen der Läden raussuchen und ihn am besten mit geschlossenen Augen betreten. Die Inhaber wissen dann auch Bescheid. Man wählt sie nach Gefühl, ohne jemals vorher einen Blick darauf geworfen zu haben.“ „Das … klingt seltsam. Was genau sind diese Gen's nun?“ „Das … ist zur Abwechslung mal eine kompliziertere Frage. So richtig weiß das keiner. Niemand weiß wo sie hergestellt werden und niemand weiß, wer auf die Idee kam so etwas existieren zu lassen. Warte. Ich zeige dir mal, was ich meine.“, flüstert er mir schon fast zu. Eine gewisse Spannung liegt im Raum, die einen nicht mehr lauter sprechen lässt. Er steht auf, um sich ein paar aus dem Regal zu holen. Ich sehe eigentlich nur beiläufig zur Seite und entdecke, dass er gar keine dieser Kabel trägt. Er ist zu schnell weg, als dass ich mehr erkennen könnte. Nur eins noch: Die Boots gehen fließend zu seinem Bein über. Es sieht seltsam aus, wie ein Body-Art oder so. Man erkennt aber noch die Laschen und die Schuhbänder. Ab einem bestimmten Punkt hört es einfach auf und wächst schon fast mit seinem Bein zusammen. Verrückt. Er setzt sich wieder und zeigt mir die beiden Enden der Kabel. Es sind Kappen darauf. Ich erinnere mich, dass Séox sie damals ab gezogen hat, doch was dann passiert ist, weiß ich nicht mehr. Seroll zeigt mir genau das Gleiche, nimmt die Kappen ab, sodass ich sehen kann, was so seltsam ist. Er erzählt weiter: „Da. Es sieht schräg aus aber … in diesen Kabeln sind wie klitzekleine Nervenstränge eingearbeitet worden. Sieh genau hin. Man erkennt, wie sie sich bewegen, ganz leicht, wie Pflanzen im Meer.“ Er hat Recht. Es ist … erschreckend und faszinierend gleichermaßen. Ich beuge mich etwas näher, so wie er auch, um genauer sehen zu können. Mir fällt nicht auf, wie nahe wir uns dabei kommen. Ich frage mich langsam wirklich, WER auf die Idee gekommen ist, diese kleinen Dinger in diese Kabel einzusperren. Wie sie sich bewegen, könnte man denken, sie wären eigenständige Lebewesen. Wie gesagt: beängstigend und faszinierend. Er erzählt mir flüsternd: „Man darf sie nicht einfach so anfasse. Sie würden sich versuchen mit dir zu verbinden. Es kann dir deine Hände komplett kaputt machen aber auf jeden Fall würde dein Finger, mit dem du es angefasst hast, absterben. Es ist wie wenn man auf die Idee kommt die falschen Gen's in seine Beine zu schieben!!!“ Aufblickend und mich wieder normal hinsetzend, muss ich eigentlich schon fast wieder darüber lachen. Er setzt sich auch wieder normal hin, wirkt nicht wirklich sauer deswegen, eher erstaunt über meine Dummheit und räumt die Kabel zur Seite. Ja, es ist leicht mein Handeln zu kritisieren, wenn man selbst die Regeln und Gefahren kennt. Ob ich, trotz meines Wissens jetzt, damals abgesagt hätte, weiß ich nicht genau. Es ging schließlich um Sally. Er deutet auf meine beiden Knie, pocht ziemlich nervös mit ein paar seiner Finger darauf herum. Mir ist noch gar nicht so genau aufgefallen, wie hibbelig er eigentlich ist. Muss man wohl eine Neigung zur Hyperaktivität haben, um diesen Sport machen zu können? „Nun zeig schon her. Ich hab's ewig nicht gesehen. Will wissen, was ich … was da draus geworden ist.“, tut er sich fast schon schwer an dieser Aussage, wirkt nervös und betroffen gleichermaßen. Kommt die Unhaltbarkeit seiner Finger wohl doch nur durch die Nervosität, die er da ausströmt? Ja stimmt, die Verbände trage ich nach wie vor auf Empfehlung des Arztes. Zur Abwechslung mache ich mal, was der vor mir von mir verlangt hat und er sieht die Nähte. Würde jemand anders die Nähte sehen, wüsste derjenige sofort Bescheid. Ich meine, über mich und wegen diesem Sport. Auch wenn es viele Menschen in der Stadt gibt, die diesen Sport nicht machen, so wissen sie doch immerhin, dass normale Leute nicht ewig die selben Verbände tragen. Normale Menschen heilen. Bisher habe ich mich auch noch nicht getraut nach zu fragen weshalb sie, all diese Sportler, so sehr verfolgt werden. Es ist gefährlich, ja, habe ich auch schon gemerkt und sieht man ja nun auch, aber es so ausarten zu lassen, dass man die Sportstätte in die Luft jagen muss? Zu viele Rätsel sind noch offen. Der Junge mir gegenüber schaut sich ziemlich genau die Nähte an. Er hat kalte Fingerspitzen, welche sich mit der Zeit deutlicher darauf legen. Also hat er eigentlich allgemein kalte Finger. Ich zucke ein paar Mal zusammen und mehr, je häufiger er über die darunter liegenden Hohlräume fährt. Es tut irgendwie weh. „Ich habe gar nicht gewusst, dass du auch fährst. Kennt ihr Zwei euch daher so gut?“ Wir schrecken beide auf, als eine dritte Stimme aufkommt. Der Junge hat sofort mein Bein losgelassen und sich wieder normal hingesetzt. Ziemlich stramm, nein, erschrocken sogar, sitzt er da. Mein Chef konnte sich seiner Arbeit lossagen. Er steht erst seit ein paar Sekunden da und mustert noch immer den Raum. Als er damit fertig ist, schließt er seine Augen und überkreuzt seine Arme vor seinem fülligen Körper. „Räume das bitte auf. Es soll keiner meiner normalen Kunde sehen. Danach kannst du Heim gehen. … Du bist die Erste, die so eine Aktion überlebt hat.“, spricht er zu mir, unbedacht. Er baut diese eine Tatsache so in seinen Text ein, dass ich es fast überhört hätte a-aber … Ich zucke zusammen. Er hat das einfach so gesagt, gerade heraus, ohne Bedenken. Mein Körper bleibt starr, doch ich höre, wie mein 'Lehrer' frustriert stöhnt und sich eine Hand vor sein Gesicht schlägt. „Danke, ehrlich, vielen Dank! Da hat sie nach einem Monat mal ein bisschen Interesse dafür und dann … naaaaa, fuck!“ Mein Chef verändert seine Haltung nicht. Er muss gewusst haben, wie ich darauf reagiere. Ich schaffe es nicht auch nur noch ein vernünftiges Wort zusammen zu bekommen. Wie kann er so etwas einfach so sagen? Warum? Bereitet es ihm keine Sorgen, dass andere Menschen daran sterben? Ich mag diesen Gedanken nicht, überhaupt nicht! Der Junge in fast meinem Alter übernimmt das Aufräumen ziemlich schnell. Ich will ja eigentlich helfen aber – aber mein Körper will nicht. Mein Herz will nicht. Es hält den Druck, der eben darauf liegt, kaum aus. Er nimmt daraufhin auch meinen Rucksack und sieht nur ganz kurz, wie ich versuche irgendwelche Worte und Buchstaben aneinander zu reihen. „Vergiss es, kleines Kind!“, murrt er, packt nach meinem Arm und zerrt mich streng hinter sich her. Erst irgendwo mitten in der Stadt lässt er los. Wir stehen wohl wirklich ziemlich mittig, denn um uns herum sind nur noch Hochhäuser und Wolkenkratzer. Geschäftsgebäude, Hotels und zum Teil auch Eigentumswohnungen. Zwischen den Gebäuden gibt es die Straßen, Fußgänger- und Radwege und ganz oben drüber, über all diesem Tumult, gibt es die Brücken. Dafür ist unsere Stadt bekannt, doch nur wenige, Familien oder alte Leute, nehmen sich die Zeit, bis hier hoch zu kommen. Die Meisten haben es eilig und bleiben unten auf dem schnelleren Weg. In einer Höhe von 3, 5 und 10m gibt es jeweils Brücken, die von einem Gebäude zum nächsten führen. Er hat mich erst nur die 3m hoch geschliffen, bis ich wieder halbwegs klar denken, nein, sehen konnte. Sogar das Bild vor mir hatte sich mit der Zeit verwischt, weil ich einfach nur mit großen Augen geradeaus geschaut und vergessen zu zwinkern habe. Als es wieder halbwegs geht, lässt er meinen Arm dennoch nicht los. Er lässt ihn nur sinken, greift vom Ober- auf meinen Unterarm um. „Und? Wieder halbwegs anwesend?“, hat er mich gefragt, doch ich konnte nicht wirklich darauf antworten. War ich anwesend, nur weil ich die Umgebung um mich herum wahrnehmen konnte? Ich weiß nicht genau. Erst als wir die 10m Brücken erreicht haben, durch vieles, vieles Stufen gehen, lässt er mich ganz los. Die Gedanken an die vielen toten Menschen, die das was ich gemacht habe, nicht überlebt haben, verfliegen nach und nach. Er hat mich am Geländer abgestellt und ist weiter gegangen, keine Ahnung wo hin. Meine Arme lege ich über das Geländer und ich schaue in die Ferne, dem Sonnenuntergang entgegen. Es entspannt, löscht die meisten Gedanken und Zweifel aus meinem Kopf. Ungeahnt ruhig, ich meine innerlich ruhig, kommt der Fourth zurück. Er stellt sich neben mich und reicht mir etwas entgegen. „Hier nimm. Tee hilft immer!“ Ich grinse, unsicher, und nehme die warme Dose entgegen. Meine Finger sind ganz kalt, was aber erst auffällt, als ich die Dose zwischen beiden Händen halte. „Was er da gesagt hat …“ „N-Nein …“, unterbreche ich ihn schon fast mit heiserer Stimme, „ … ich will nicht wissen wie viele und – und drücke mich vor der Frager, was an diesem Sport so schlimm ist aber … eine Frage bleibt trotzdem: … Warum ich?“ Er atmet hörbar durch, ruhig, lehnt sich genauso über die Brüstung wie ich und schaut sich ebenfalls die unbestimmbar große Sonne an, wie sie hinter all den Häusern der Stadt nach und nach versinkt. Seine Stimme wird noch leiser, sanfter, durchbricht nur ganz leicht die Ruhe, die sich nach und nach auftut. „Ich weiß es nicht. Was dir da passiert ist … ist eigentlich unmöglich. Vielleicht hatte einer dieser Wächter etwas damit zu tun.“ „Du meinst, genauso wie mit meinen Sprüngen? Ja, das dachte ich mir auch schon. Die Boots haben von allein gewusst, was sie tun sollten.“ „Und trotzdem denke ich, dass – dass du gut darin sein könntest. Wer weiß, vielleicht könntest du irgendwann auch mal meinen Platz einnehmen. Egal wie sehr dieser Wächter mit seinen Scates verbunden war, darin gesteckt hast nur du. Irgendetwas musst du auch bewirkt haben.“ „Warum erklärst du mir das alles hier? Du sagtest, ihr sucht neue Mitglieder und erklärt denen alles.“ Er stellt sich ordentlicher hin, kramt etwas aus seiner Manteltasche und hält es schon bald darauf vor sich. Ich frage mich, wofür er die mitgenommen hat. „Du bist ja doch nicht so dumm. Die Gen's die du heute ausgesucht hast, die die am ordentlichsten im Regal lagen und die … die ich nicht weggepackt habe, … das sind deine. Du konntest sie auswählen ohne sie zuvor gesehen zu haben. Wenn du also wollen würdest … bräuchtest du nur noch ein paar Scates.“ „Ich … ich will nicht … denke ich.“ „Du hast es noch nicht mal versucht.“, protestiert der Junge ruhig. „Ich habe es versprochen.“ Sich vom Geländer erhebend, schaut er streng zu mir herab und meint lauter werdend: „Wenn das der einzige Grund ist, der dich davon abhält, dann bist du wirklich dumm!!!“ Bin ich das? Dieser Sport macht mir trotz allem Angst … oder gerade wegen alle dem, was ich heute erfahren habe. Sally hintergehen widerstrebt mir einfach, nachdem ich weiß, wie viel ihr das alles bedeutet. Ich reagiere nicht auf seinen Protest und er gibt kaum später auf. Letztendlich schauen wir Beide uns nur noch den Sonnenuntergang an, bis es komplett dunkel geworden ist. Er hat die Kabel noch immer nicht eingesteckt, hat sie lediglich wieder zur ursprünglichen 8 zusammen gelegt. Meine Blicke wechseln nun immer wieder zwischen den Sternen und seinen Händen. Ich will mich von beidem nicht lösen müssen. Also … Also starre ich einfach weiter in den Himmel und reiche ihm eine meiner Hände hin. Er ist so in all das über uns vertieft, dass er es erst gar nicht mitbekommt aber das ist nicht weiter schlimm. Wir stehen bis weit nach 23 Uhr an diesem Geländer, trinken Tee und schauen weiter nach oben. Ich weiß nicht, woran er denkt und er weiß nicht, woran ich denke. Ich weiß auch nicht, ab wann er meine Hand mal bemerkt hatte aber seitdem hat er sie in meine Hand gelegt … aber noch nicht los gelassen.
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