Wenn ich ehrlich bin habe ich furchtbare Angst davor JETZT in die Schule zu müssen. Ich hasse es, wenn die anderen mich so sehen. Es wirkt so verletzlich, so kaputt aber mir ist auch klar, dass der erste Schock jetzt wohl besser ist als wenn sie anschließend die Narbe sehen, denn mir ist auch klar, dass ich diese nur noch schlecht mit meiner Kapuze verdecken kann.
Vielleicht ist es ja untypisch für mich aber in diesem Moment ist es mir lieber, wenn ich hinter ihm bleiben kann und ein Stück näher an ihn heran rücke. Er sieht von oben zur Seite zu mir herunter und lächelt wieder. Ehrlich. Er ist gar nicht so schwer zu verstehen, er ist nur vom Charakter her kompliziert. Als wir dann wirklich das Gelände betreten klingelt es auch schon zur nächsten großen Pause. Die Klasse in der ich bin kommt als erstes heraus. Ist ja auch kein wunder, wenn sie gleich im ersten Raum sitzen. Schon von weitem höre ich sie reden. „A-Aber warum denn Lys? Lass mich doch endlich gehen, ich soll ihn doch abholen.“ „Wieso denn abholen?“, will Alexy wissen. Lys hingegen bleibt schweigsam. Er schaut nur in Richtung seines Bruders und gibt anschließend Castiel das Zeichen, dass er Armin ruhig loslassen kann. Er hört wie ein brav erzogener Hund. „Du wärst eh zu spät gewesen.“, erklärt der Weißhaarige letztendlich. Noch bevor Armin hinschauen kann, funkt Alexy auch schon dazwischen, „O hey, hallo Leigh. Wie geht’s dir denn?“ Er nickt nur von weitem, „Super. Sieh mal, ich habe dir wen zum spielen mitgebracht.“, kündigt er schon von weitem an. Das ist jetzt also 'mein Auftritt'. Ich spüre sogar am Boden unter meinen Füßen wie der Blauschopf näher kommt. Er ist neugierig geworden. Sie ist ja wirklich so durcheinander deswegen, dass ich sogar dann, wenn sie nur mit ihrem Rücken gegen meinen lehnt, spüren kann, wie sehr ihr Herz schlägt. Erst die Narkose, dann der Weg hier her und jetzt das noch. Lys, hoffentlich war das auch gut überlegt …, versucht er seinen Bruder innerlich zu erreichen. Ich reiße mich etwas mehr zusammen, versuche mein Herz zu beruhigen, indem ich meine Hände davor nehme und den Druck darüber entweichen lasse. Es hilft, zumindest ein bisschen. Ich senke meinen Kopf einfach so weit ich kann und trete anschließend hinter dem Verkäufer, hinter Leigh vor. Alexy ist so überrascht deswegen, dass er kurz an Tempo verliert. Die anderen holen ihn beinahe wieder ein, doch schließlich hält er weiter auf uns zu. „H-Hey Mino was … was ist denn passiert?“, wird seine Stimme zittrig. O nein, das ist genau das was ich nicht vertrage. „Ach, lasst ihn mal. Er ist eben erst aufgewacht. Ich habe ihn vom Arzt abgeholt.“ „Und wie … geht’s dir?“, versucht er seine Stimme ruhig zu halten. Ich sehe nicht auf, trotzdem ist der Rest des Verbandes gut sichtbar. „Ganz gut soweit. Die Medikamente helfen. Kommt davon, wenn man zu lang in der Schule bleibt.“, versuche ich dabei zu lächeln. Lys steht hinter ihm, Kentin daneben und auch Rosa hat sich dazu gesellt. Sie umarmt ihren Freund so eben und ich verliere dadurch nur mehr an Deckung. Armin ist erleichtert mich zu sehen, sogar das kann ich spüren. Er ist es aber nur, weil er weiß, er kann wieder spielen kommen. Das wiederum ist beruhigend. Schmunzelnd wage ich einen Blick von den Füßen zu den Körpern der anderen. Alexy ist wohl der einzige, der überhaupt nichts wusste. Das ist ziemlich fies von den anderen. „Und Schule? Wer ärgert jetzt die Lehrer?“, frage ich nach. Entspannt tritt einer nach vorn und meint, „Das übernehme ich seitdem. Gerade unser Sportlehrer ist ziemlich hinüber dank dir.“ „Reisbällchen?“, stimmt, ich bin wirklich verwundert darüber, warum er stehen bleibt. Die Neue jedenfalls mit all ihren Mädels verschwindet sofort durch das Tor. Da wundert mich nur, dass sie ihren Streber nicht bei sich hat. Der hängt doch sonst immer bei ihr. Er muss wohl noch arbeiten, ein Glück aber auch. „Was denn, so verwundert mich hier zu sehen? Du bist es doch, der ungeklärt nicht zur Schule kommt.“, will der Rotschopf von mir wissen. „Dafür schwänze ich wenigstens nicht.“, mache ich mich über ihn lustig. Sofort kehrt sein altes gehässiges Lächeln zurück. Das erleichtert mich nochmals, denn das bedeutet, dass sich nichts geändert hat. Alexy schweigt noch immer. Er wird wieder sauer auf seinen Bruder und diesmal auch auf alle anderen. Warum haben sie ihm denn nichts davon erzählt? Wie sollten sie das denn machen, wenn sie es selber erst vor ein paar Minuten erfahren haben. Nur weiß er das ja nicht. „Und mit wem hast du dich geprügelt?“, will der Blauschopf vor mir letztendlich wissen. Geprügelt? Wer setzt denn solche Gerüchte in die Welt?!, kann ich nicht begreifen. „Mit niemanden. Ich habe wohl einfach die Situation falsch eingeschätzt. Es war schon spät, da kann so etwas mal passieren.“, bleibe ich ungewohnt gehalten. Ich erkenne unter den anwesenden nicht, dass gerade Armin und Castiel deswegen erstaunt sind. Warum gerade Reisbällchen? Er hat doch gar nichts damit zu tun. Lysander und seinem Bruder sieht man an, dass sie enttäuscht sind. Wahrscheinlich, weil ich mir mal wieder nicht helfen lasse aber was soll's. Das geht die zwei ja wohl gar nichts an. Und noch während wir alle nach dieser Frage schweigend voreinander stehen, läuft ein anderer, eine andere Person an uns vorüber. Als ich zu ihm blicke kann ich es nicht fassen. Ich will nicht wahr haben, was ich da sehen muss. Nein, das will ich nicht! Als er nur ein paar Schritte an uns vorbei ist, spüre ich wie mit jedem weiteren Zentimeter die Wut in mir überkocht. Mein ganzer Körper spannt sich an, wodurch mein Haar wirkt wie aufgeplustert. Meine Augen stehen weit offen. Mein Atem zittert und stockt und meine Hände sind zu Fäusten geballt. Die anderen sind stumm. „WER ZUM TEUFEL WAR DAAAS!“, schreie ich frei aus mir heraus. Es hallt über den ganzen Schulhof, durch jeden Flur, bis in jeden Raum. Die einzelnen Schüler, die sich noch überall befinden, schauen erschrocken auf und auch die vor mir sehen erschrocken aus. Eigentlich sind sogar alle ein paar Schritte zurück gegangen, weil sich nun wirklich alle fürchten. Ausnahmslos! „Wer zur Hölle hat es gewagt ihn so zuzurichten?! Wer nimmt sich das Recht heraus das zu tun, was höchstens ich hätte tun können?! Wer - Wer von euch!!!“, brülle ich alle an und scheue mich in diesem Moment nicht davor, dass mich jemand sehen könnte. Auch der eben vorbeigezogene bleibt stehen. Er jedoch hat keine Angst, er ist entsetzt. Entsetzt deswegen, weil ich mich für ihn einsetze. „War das etwa Nathaniel?“, will Alexy wissen. Er fragt so kindlich, so unschuldig nach, dass es mich zumindest ein wenig beruhigt. „JA natürlich war er das. Den Tag hatte schließlich kein anderer die Gelegenheit dazu! Deswegen erlaubt es aber keinen, keinen einzigen ihm das gleiche anzutun! … oder zumindest etwas ähnliches. Wir leben schließlich nicht mehr in der Steinzeit. Das war meine eigene Schuld, verstanden!?!“, bin ich noch immer laut genug, dass sich keiner wagt näher zu kommen oder etwas zu sagen. Sogar Kentin fürchtet sich. Am Ende ist meine Zurechtweisung so streng, dass sich keiner getraut sich zu melden. Ich glaube jeder fürchtet so eben um sein Leben. Zumindest jeder den ich sehen kann. Leise, aus der hintersten Reihe der Anwesenden, genau in die andere Richtung, höre ich nur dieses eine Wort, „Baka!“ Es ist sofort klar von wem dieser Laut kommt. Ich stelle mich sofort wieder normal hin und mein zittern ist verschwunden, meine Wut wurde zerberstet. „Warum hast du nicht gesagt, dass – dass du ihn nicht gestohlen hast?“, jammert er schmerzlichst, wegen seinen Wunden, wegen seiner Schuld oder ist es wegen meinem Schild? Diese Frage lässt meinen Körper bewegen ohne dass ich etwas dazu tue. Am Ende stehe ich vor ihm, er ist zu mir gewandt und ich gebe ihm zurück was er mir angetan hat. Vielleicht hat er ja bereits mehr als genug zurück bekommen aber noch nicht von mir. Sein ganzes Gesicht ist rot und blau und an seiner Stirn ziert ihn eine Platzwunde, deswegen, nur deswegen spreche ich mein Urteil milde. Eine Ohrfeige reicht vollkommen aus. Genauso schmerzlichst wie er spricht, hält er sich nun auch seine Wange. „Du hast nicht danach gefragt. Du hast ohne nachzudenken zugeschlagen und nicht mal mehr das Blut mitbekommen. Hätte ich dir gesagt, dass es deine Schwester war, hättest du mir geglaubt?“ Obwohl ich ja sonst schon immer meine kalte Stimme auflege, so ist diese nochmal besonders zum fürchten. Sie ist rau, zurechtweisend, beängstigend und dennoch heilend. Was ich sage ist nicht gelogen oder falsch und deswegen genau das was er jetzt brauchte. „Gomen' … wirklich, es – es tut mir Leid. Das war einfach nur dumm von mir.“, gibt er letztendlich zu, der Streber. Ich schließe meine Augen und nicke nur. Er selber fühlt sich noch nicht wirklich besser. Er gehört eben zu den braven und korrekten Schülern, denen so etwas eigentlich nicht passieren dürfte. Umso schmerzlicher ist die Wahrheit. Immerhin weiß er, dass ich seine Entschuldigung angenommen habe. Das ist ein Anfang, also geht er. Nur ich befinde noch das Verlangen danach ihm etwas zu sagen. Ebenfalls nur ein einziges Wort und das auch noch ungewohnt ruhig, leise. „Baka!“ Es erleichtert ihn. Das gibt ihm zumindest ein bisschen Normalität in seine kaputte Welt zurück und er kann zumindest wieder Lächeln. Es stimmt … was die anderen sagen stimmt wirklich. Er ist vielleicht eigen aber er ist kein schlechter Mensch. Schlechte Menschen … beschützen keine anderen …, hat auch er es endlich eingesehen. Als die anderen merken, dass ich meine Wut verloren habe, können auch sie wieder normal stehen, normal sprechen und sich normal verhalten. Genau so als wäre nichts passiert. Ich stehe noch immer mit dem Rücken zu ihnen gewandt, so kann niemand sehen, dass ich eigentlich eben mein Bewusstsein verloren habe. Wie Leigh bereits vermutete. Es war einfach zu viel. Ich weiß nur, dass ich keinen Aufprall spüren konnte. Ich dachte zuerst an den der mir am nächsten stand, an den Verkäufer, aber falsch. Als fast jeder zu spät reagiert, fängt ein einziger meinen Körper auf. Er stützt meinen Kopf von unten und hält meinen Körper auf seinem Knie. Die anderen stehen schon wieder still. „Was du?“, fragen alle zugleich nach. „Sage nur … du hast Nathaniel so dermaßen …“ „JA verdammt! Und? Konnte ich ja nicht ahnen, dass der deswegen so ausflippt!“, unterbricht dieser Junge Alexy. Wer dieser Junge ist? Natürlich kein anderer als … mein Banknachbar. Castiel. Auch er hörte mit als Armin auf dem Hof erzählte und er war der einzige der sah, wie ich Schülersprechers Schwester den Umschlag wegnahm. Er war der einzige der es sofort begreifen konnte. Weshalb er ihn aber so dermaßen verprügelte, kann ich nicht verstehen, wahrscheinlich tut er das nicht mal selber. Spöttisch grinst ihn der Spieler an, „Warum hast du es ihm denn nicht gesagt, hmm? Sage bloß du hattest …“ „Halts Maul oder willst du der nächste sein?! Sage nur du hättest es erzählt? Ich mache das schon noch nur …“ „Tu's nicht!“, ertönt wieder von ganz hinten. Irritiert sieht der Rotschopf ihn an, „Ja aber … “ „Ich sagte doch, tu's nicht. Wenn dir dein Leben etwas wert ist, dann behältst du es für dich.“ Alle sehen sie in diese grünen, ernstzunehmenden Augen des Brünetten. Sie wundern sich, gerade wegen der Sache mit dem Leben. Kentin beugt sich zu ihm, wenn er ehrlich wäre eigentlich mehr zu mir, herunter. Er stützt seine Ellenbogen auf seine gespreizten Beine. Er wirkt so lässig. „Das meinst du jetzt doch nicht ernst oder?“, belustigt sich der vor ihm. „Doch das meine ich ernst. Dieser Giftzwerg hier bellt nicht nur, er beißt auch und wenn er zubeißt, dann lässt er nicht mehr los.“, versucht er sich scherzhaft auszudrucken, doch es kommt nicht an, also doch ganz ernst, „Glaube nicht, dass er vor irgendetwas zurückschrecken würde, wenn es um Ehre und Vertrauen geht. Weißt du wie schlimm es für einen Military sein kann, wenn ein begonnener Kampf vom falschen beendet wird? Nimm ihm nicht seine Ehre, das ist schließlich das Einzige was er hier hat!“ Wow, die Ansage hat gesessen, sogar bei Castiel. Inzwischen überprüft Kentin mal meine Atemfunktion und meinen Allgemeinzustand. Ansprechbar bin ich nicht aber gut transportfähig auf jeden Fall. Als er nur versucht mich dem anderen zu entreißen, schließt dieser sofort seinen zweiten Arm um mich und hebt mich an seine Brust. Das ist wohl genauso eindeutig. Diesmal beugt sich Kentin wieder. Er geht ohne mich voran. „Danke Leigh, danke Lys.“, flüstert er dem Verkäufer nur noch zu. Er meint es ernst, schließlich hätte ich sonst nie etwa gesagt. Die zwei hatten keine schlechten Absichten. Dass das so ausgehen würde, konnte keiner ahnen.
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