Ich kann klar und deutlich hören, wie er mit sich spricht. Ich sitze schon die ganze Zeit über hier, hinter einem großen Strauch und einer Mauer eingequetscht. Meine Beine habe ich angewinkelt und mit beiden Armen umklammert. Als er endlich geht, kann ich mich wenigstens etwas lockern.
Nathaniel getraut sich wirklich die ganze Stunde über nicht raus. Er hat sich Gedanken gemacht, ob es wirklich so wichtig ist, was die anderen denken, doch als der Lehrer zurück kommt und flucht, weil er mich nicht gefunden hat, denkt er sich: Wenn er sie schon nicht finden kann, wie soll ich das dann? Erst nach der Stunde versucht er es. Es ist selten, dass ich so lange irgendwo fern bleibe. Natürlich kommt er dabei auch am Schulhof vorbei und zu seinem Pech kreuzt Castiel seinen weg. Beide bleiben stehen. „Selten gesehen, hast hier nichts zu suchen, denke ich mal!“, bellt der Rotschopf böse. Das ist eindeutig sein Revier und das zeigt er vor allem Nathaniel gerne. „Ich suche jemanden aber ich wüsste nicht, was dich das etwas angeht.“, greift der Blondschopf ihn ebenfalls an, der sonst so vorbildliche Schülersprecher, ja auch der bekommt seinen Mund auf! Sicherheitshalber trennen sich ihre Wege. Jeder macht an Ort und Stelle kehrt, dabei führt es Castiel genau da hin, wo ich mich bereits verkrochen habe. Erst jetzt fällt mir auch auf, dass hier unzählige Zigarettenstummel liegen. Ich hätte es mir ja so denken können aber nein! Sue! Warum siehst du so etwas nicht!, lasse ich meinen Frust an ihr aus. „Dieser Nathaniel …“, spricht er seinen Namen aus, als wäre er ein lästiger Kaugummi, welcher unter seinem Tisch klebte, „ … der soll mir bloß fern bleiben. Wenn der mir noch mal unter die Augen tritt, garantiere ich für nichts!“ Ruckartig steht jemand neben ihm auf. Er hat mich bis eben nicht mal mitbekommen. Ich jedoch habe mich erschrocken, sobald er hier aufgetaucht ist und als er angefangen hat zu sprechen – gruselig! Seine Gesichtszüge entgleisen ihm und er sieht entsetzt zur Seite. Er hat sich wohl wirklich erschrocken. Nur einen kleinen Moment erlaube ich meinen Lippen, ein Lächeln rüber rutschen zu lassen. Jeder Moment zu viel, wäre eben jeder Moment zu viel! Sein Lächeln hingegen wird so schelmisch wie bisher noch nie. Ich spüre die Hitze in mir, die mich sofort darauf reagieren lässt, „Sei bloß still!“ „Ja ja, versteck dich ruhig weiter.“, kann er seinen Kommentar einfach nicht lassen. „Was ist?“, will ich aufgebracht von ihm wissen. Erst hinterher bemerke ich einen fragenden Ausdruck in seinem Gesicht. „Warum bist du überhaupt abgehauen?“ Mein sonst schon so bleiches Gesicht, taucht in ein extremes weiß ein. Ich kann nicht glauben, dass er das wirklich fragt. Es kommt mir so falsch vor, schließlich haben es doch alle gesehen und auch gehört, was der Lehrer gesagt hat. Erst danach begreife ich, dass die Möglichkeit besteht, dass er nicht hingesehen hat. Schnell wird mir diese Frage unangenehm und ich laufe rosig an. „Hast du – Hast du es denn nicht gesehen?“, muss ich unweigerlich von ihm erfahren. „Ich glaube in diesem 'unglaublich erschreckenden Moment' habe ich gerade nicht aufgepasst.“, hört es sich so an, als wäre es sein alltägliches Verhalten im Unterricht, wenn er denn mal anwesend ist, „Die anderen haben auch nichts eindeutiges darüber von sich gegeben, nur irgendwelches Getuschel und Gelächter.“ Zögernd lege ich wieder eine Hand auf mein Cap. Ich habe wirklich gedacht, jetzt habe ich es hinter mir aber nein! Ich bin fast nervöser als erst im Unterricht. Verkrampft rutscht meine Kopfbedeckung nur Zentimeter für Zentimeter von meinem Kopf. Ich sehe ihm an, wie genervt er davon ist. Er packt einfach danach und reißt es mir herunter. Meine verkrampften Hände reagieren nicht schnell genug, um ihm das Cap wieder wegzunehmen. Ich werde bis über meine felligen Ohren rot und schaue zur Seite von ihm weg. Die Mauer ist immer noch ein besserer Anblick, als er es je sein könnte. Wie erst schon versuche ich auch jetzt sie nach vorn umzuklappen und unter meinem Haar zu verstecken. Es wirkt unschuldig. „Na los, sage schon was. Dir fällt doch bestimmt irgendetwas urkomisches dazu ein oder!“, vermute ich niedergeschlagen und sauer, sauer auf mich selber, weil ich nicht schnell genug war, um mir mein eigenes Cap bei mir zu behalten. Es geschehen also doch noch kleine Wunder, Castiel wird sprachlos, so richtig sprachlos. „Ähm, äh, also … hier!“, hält er es mir einfach so, ohne Widerspruch unter die Nase. Sein Gestammel kann man gerade noch so verstehen. Irgendetwas ist mit ihm passiert, sein Gesicht ist errötet und das nicht zu knapp, doch ich bemerke es nicht. Zu seinem Glück, wie er meint. Ich kralle mir sofort die Kopfbedeckung. Das ist alles, was mich gerade interessiert. Noch bevor ich es aufsetzen kann, zerzaust er mir starrköpfig mein Haar. Ich beiße die Zähne zusammen und starre auf den Boden. Er schafft es wirklich mich immer wütender zu machen. „Pfoten weg!“, droht jemand hinter ihm. Er drängt sich sofort zwischen den Rotschopf und mich. Auch er nimmt mir ohne ein Wort zu sagen das Cap ab, doch legt es einfach über meine Ohren drüber. Viel zu freudig, platzt es einfach aus mir heraus, „Nathaniel!“ sofort nimmt der Raucher seine alt gewohnte Haltung ein und legt seine gewohnte Grimasse auf. Der Junge vor mir wendet sich gleich darauf zu mir. Seine eben noch so pflichtbewusste, feste Stimme ist wie ausgewechselt. „Komm mal mit, ich möchte dir etwas zeigen.“, lenkt er sofort ab, ob nun von Castiel oder wegen der Unruhe der anderen über meine Ohren sei mal dahingestellt. Ich sage nichts und folge ihm. Er lauft die ganze Zeit voraus. Ich schaue verträumt auf seinen Bewegungen und versinke in meinen Gedanken- Wie komisch, als wäre nie etwas gewesen. Was die Sache mit dem Vertrauen angeht, weder er traut mir noch ich ihm... also warum folge ich ihm dann? Vielleicht lohnt es sich ja auch, einfach von vorn anzufangen. Es ist schließlich Nathaniel, warum also nicht! Er zeigt mir den Weg bis ganz nach hinten den ganzen Flur entlang. Er ist riesig und so viele Klassenzimmer habe ich auch noch nirgendwo gesehen, auf noch keiner einzigen Schule. Obwohl wir fast nur geradeaus gelaufen sind, wüsste ich schon jetzt nicht mehr genau wo lang. Mein Orientierungssinn ist wohl so schlecht wie von kaum einem. Noch ein Grund, weshalb ich mich schämen sollte. Endlich bleibt er mal vor einer Tür stehen. „♪♫♪ Musikzimmer ♪♫♪“, steht darauf. „Weißt du noch früher? Da hast du auch immer gespielt, pausenlos gespielt! Ich habe es nur vergessen. Naja, wer hätte auch gedacht, dass wir uns jemals wieder sehen.“, schwelt er in Erinnerungen. In seiner Stimme liegt etwas ganz dezent gehaltenes trauriges. er will wohl nicht, dass es jemand mitbekommt. Endlich begreife ich, was er will, was er vor hat. Ich habe das Gefühl, ich müsse irgendetwas sagen, um ihn aus seinen Gedanken zu holen und sei es auch nur eine kleine Zustimmende Geste. „Ja.“, rutscht mir schwach über die Lippen. Er greift endlich zur Türklinke und reißt die Tür halb auf. Der entstehende Luftzug macht es mir schwer, etwas zu erkennen, doch sobald er sich legt, bekomme ich meinen Mund kaum zu. Da steht ein Traum von einem weißen Flügel. Nathaniel setzt sich und wartet. Ich brauche noch eine Weile, um zu realisieren, dass diese Schule tatsächlich einen weißen Flügel besitzt! Eine ganze Weile starre ich ihn einfach nur an. Vorsichtig, zaghaft, als wäre es etwas zerbrechliches, fahre ich über die Rundungen und Kanten des Flügels. Es leitet mich bis zu den Tasten vor. Erst dann getraue ich mich, mich zu setzen und lege sanft meine Hände auf die Tastatur. Ich will wissen, wie schön es klingt. Zwei Griffe reichen und ich weiß, es ist wunderbar gestimmt. Es klingt sagenhaft schön und ich lasse es mir nicht nehmen, ein richtiges Stück darauf erklingen zu lassen. Genau in dem Moment kommt einer der Schüler aus meiner Klasse vorbei. Er interessiert sich genauso für Musik wie ich, also lauscht er an der Tür. Sobald die Melodie das erste mal richtig ertönt, lassen sie die Noten durch ihren Körper fließen und schmelzen förmlich dahin. Das Stück steht in keinem Lehrbuch geschrieben und man kann auch nicht behaupten es wäre lang, doch das was die zwei Jungs da hören, trägt Ruhe in sich und zugleich etwas sehr trauriges. es ist fast so, als würden sich beide von mir in ihre Herzen blicken lassen. Dem Jungen hinter der Tür ist eins klar, diese Melodie stammt von mir, wirklich von mir. Darin steckt alles, was ich aussagen möchte, mein ganzes Herzblut. Ihm wird mit einem mal ganz deutlich vorgezeigt, dass mir irgendetwas passiert sein muss. Niemand, der nicht weiß, was Trauer ist, könnte ein Stück so voller Gefühle spielen. Im nächsten Moment taucht auch schon der Rotschopf bei ihm auf. „Was machst du hier?“ „Nichts …“, lässt er die Tür hinter sich zufallen und geht mit ihm. Die zwei verstehen sich prächtig, da fragt man sich schon, wie das gehen soll. Jemand, der Ahnung von Gefühlen hat und dann jemand, der absolut stur auf dem Hof steht und alles ausblendet. Irgendwie muss es ja funktionieren. Zusammen essen sie zu Mittag und unterhalten sich über Musik. Musik scheint der Schlüssel für alles zu sein. Gleich nachdem die zwei weg waren, tauchen auch schon die nächsten auf. Nathaniel hat mich also nicht grundlos hier her mitgenommen. Die Leute aus der Musik-AG kommen ohne Rückhalt ins Zimmer und hören genauso zu. Unter diesen Leuten steckt auch wieder der kleine Zwerg mit der großen Brille. Als ich es bemerke, erstarre ich fast vor Schreck. Mein Blick wandert zum Blondschopf. „Danke auch Nathaniel!?“, knurre ich ihn aufgebracht an. Ich würde das Stück förmlich ab, doch die Mädchen und Jungen aus der AG lassen es sich nicht nehmen, mich mit in ihrer AG aufnehmen zu wollen. Das bisschen spielen reicht ihnen also, um sie zu überzeugen? Dann muss das ja eine ziemlich schlechte AG sein. Ich versuche ihnen oft genug zu erklären, dass das nicht geht und sogar, dass ich keine Lust darauf habe, doch wen interessiert schon, was ich sage. Sie zwingen mich regelrecht dazu. Letztendlich lege ich mein schwaches, zauberhaftes Lächeln auf und stimme zu. In mir fühle ich den Aufruhr. Etwas sträubt sich gegen meine Entscheidung. Sue, ruhig! Tue nichts, klar! Das geht nicht, wir wollten doch … Zum Glück hat sie schon verstanden und ich brauche nichts weiter erwähnen. Seit diesem Tag sind nun schon drei Tage vergangen. Seit langem läuft mir Amber mit ihrem Gefolge über den Weg und das genau im Flur. Dann, einfach so, aus heiterem Himmel, holt sie weit aus und schlägt zu, so wie es sonst wohl keiner kann. Inzwischen faucht sie mich stärker an als sonst immer. Es gefällt ihr überhaupt nicht, dass sich Nathaniel immer wieder auf meine Seite stellt, so wie sie es bezeichnet. Sue, Sue, Sue! Bitte nicht, das geht nicht! Ich darf nicht … nicht wütend werden. Sue nicht!, flehe ich innerlich, halte ich mir stillschweigend vor, doch es stellt sich als schwieriger heraus, als es mir lieb ist. Ich kann fühlen, wie sich sogar schon meine Aura verändert. Sie ist so dunkel, so schwarz wie die Nacht. „Was denn los kleine Missgeburt?!“, zischt die Blondine mich an, als hätte ich ihr irgendetwas getan. Ihre zwei Freundinnen lachen lauthals mit, wie zwei Krähen, die sich um ihr Weibchen streiten. Bisher dachte ich immer, sie wären alle kleine Puppen mit viel Rüsch und Puder, doch mir wird klar, dass das ein Irrtum ist. Sie verstecken unter alle dem nur, dass sie eigentlich kleine, böse Hexen sind. Genau jetzt kommt Nathaniel mal wieder aus seinem Zimmer. Er hat den knall gehört und sich gefragt, wer da wohl etwas im Flur hat herunterfallen lassen. Ein Blick genügt und er weiß, dass es 'nur' ein harter Schlag war. Die Augen des Jungen werden groß, als er ganz genau sieht, was da vor sich geht. Er erkennt, dass ich es nicht mehr schaffe, nicht mal mehr, normal aufrecht stehen zu bleiben. Ich kann fühlen, wie sich mein Rücken ohne mein Zutun krümmt. Der verbissene Schülersprecher reagiert sofort. Er packt mich an den Schultern und dreht mich zu sich um. Dieser plötzliche Ruck holt mich wieder zurück, zurück in die Realität und zurück in die Schule. Mir wird klar, dass Sue wieder in mir war, zumindest ein kleiner Teil von ihr. 20%, höchstens. Er hofft nichts tun zu müssen. Er will, dass ich verschwinde und genau das tue ich auch. Ich zögere nicht und laufe einfach los. Vor Wut hätte ich explodieren können. An erster Stelle kommt natürlich seine Schwester. Er musste mit ihr reden, bevor er mir nach laufen kann. Das macht das Bild seiner Schwester natürlich nicht besser. „Bleib stehen!“, ruft er mir nach, als er sich sicher ist, dass ich es verstehen kann. Ungern tue ich, was er verlangt. So wie er mir immer näher kommt, würde ich am liebsten nur weglaufen. Ich hasse das, diesen Moment, diesen strafenden Moment. „Du bist deine erste Woche auf der Schule und wärst eben fast durchgedreht! Was soll das? Gerade du solltest deine Aggressionen endlich in den Griff bekommen.“, fleht er mich unerwartet an. Ich lasse mich auf die Bank hinter mir gleiten und halte mir wieder mit beiden Händen den Kopf. „Tut mir leid, tut mir leid, tut mir leid!“, bettle ich heiser um die einhundert mal, Sue, warum Sue? Wir wollten das sein lassen. Das sind nicht wir. Wir wollen doch … Meine Stimme ist viel zu stockend, als das er irgendetwas hätte deutlich verstehen können. Er sieht sich verlegen um und setzt sich dann zu mir. Seine Verlegenheit wird immer schlimmer, doch dann legt er zögernd einen Arm um meine Schultern. „Das hätte im Ernstfall auch nicht geholfen. Ich will dir doch nichts vorhalten müssen und bin auch nicht böse, nur versuche dich bitte zu kontrollieren. Es ist wichtig, das weißt du. Niemand darf wissen, dass …“ „Ich weiß Nathaniel, ich weiß doch!“, unterbreche ich ihn. Ich habe verstanden was er will, so eindringlich wie er mir das sagen musste, ist das ja auch kein Wunder. Vor ihm spreche ich so gut wie nie von Sue. Nur selten rutscht es mir heraus, in wirklich schlimmen Situationen. Er kann damit nicht umgehen, dass immer jemand bei mir ist, den er nicht sehen kann. Inzwischen ist sie wieder vollständig aus meinem Körper zurück gekehrt und steht vor mir auf dem Boden. Mit ihrem Kurzen Rüssel, wie bei einem Nasenbären, schaut sie auf und blickt mich an. Sie ist sich keiner Schuld bewusst, wie denn auch, wenn sie nicht weiß, was sie tut. Im selben Moment taucht Castiel mal wieder auf. „Hast du es immer noch nicht gelernt? Geh lieber wieder in deine kleine Zelle! Und die Neue da sollte langsam mal aufhören zu heulen, das wird langsam peinlich!“, zieht er uns beide ins lächerliche. Aus irgendeinem Grund kann ich seine Zickereien gut ignorieren und noch schlimmer, ich fange an ihn zu verstehen. Es fällt mir mit einem mal leicht mich zu beruhigen nur … warum? Meine spitzen Zähne vergraben sich wieder hinter meinen weichen Lippen und meine Augen nehmen eine ganz normale Farbe an. „Ich heul nicht, ich jammere nur etwas.“, gebe ich besserwisserisch von mir, mein Lache untergrabend. „Das macht es auch nicht besser!“ Dabei grinst er mich an, wie er das immer bei seinen schnippischen Kommentaren macht. War ja zu erwarten. Wir bleiben noch eine Weile sitzen und warten, bis er in seiner Ecke verschwunden ist. Sobald die Schulglocke ertönt, gehen auf wir, nur eben ins Schulgebäude. „Hast du verstanden? Sue und ich waren wieder … du weißt schon und es ist nichts passiert. Ich habe das Gefühl, dass ich es jetzt besser kontrollieren kann. Das einzige was Sue und ich wollen ist doch, endlich dazuzugehören. Verstehst du das?“, sind die letzten Sätze im Brief. Ich lese eben noch mal Kontrolle, stecke ihn an in den Umschlag und werfe ihn in das Postfach. Kein Absender, dafür aber Empfänger. Ich habe wirklich das Gefühl, dass Sue und ich immer mehr auf einer Wellenlänge sind. Sie reagiert beinahe wie ich oder ich etwa wie sie? Jedenfalls gefällt mir die Umgebung hier, bis auf eins zwei Ausnahmen. Hoffentlich, hoffentlich darf ich bleiben!
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