Ich dachte mir, dass sich sein Verhalten wieder legen würde aber dem ist nicht so. es ist komisch wieder allein zur Schule zu gehen. Das läuft jetzt schon seit einer Woche so. Es ist einsam, also ist es auch kein Wunder, dass ich anfange Selbstgespräche zu führen.
„Nicht mal sein Abendessen rührt er richtig an. Kaum ist er da, verschwindet er auch schon wieder. Sein Training wird auch von Tag zu Tag härter. Das bereitet mir langsam ernsthafte Sorgen. Wenn ich nachfrage, antwortet er mir nicht. Er blockt vollkommen ab. Schon über eine Woche haben wir keine Worte mehr miteinander gewechselt. Es macht mich krank, nichts zu wissen und es macht mich traurig.“ Ich ertappe mich selber, wie das Bild vor meinen Augen verschwommener wird. Die kleinen Tränen entferne ich mir sofort. Ich habe doch ein Versprechen gegeben und das halte ich auch. Schnell muss ich versuchen mir andere Gedanken zu verschaffen. Also plane ich ihm wieder sein Essen zu bringen. Er rührt es zwar eh nicht an aber es ihm geben kann ich trotzdem. Während ich wieder Planungen treffe, merke ich nicht, wie sich jemand von hinten an mich heran schleicht. „Na du, wie geht es dir denn?“ ertönt eine Stimme und reißt mich vollkommen aus dem Konzept. Erschrocken bleibe ich stehen. Meine Nackenhaare stellen sich allesamt und aufeinmal auf und meine Miene entgleist. Zusammen zuckend, platzen mir einfach so die Worte heraus. „SIE KÖNNEN MICH DOCH NICHT SO ERSCHRECKEN!“ Irritiert schaut er mich an. „Sorry!“, tut er die Sache damit ab. Anschließend stöhnt er genervt auf. „Wirst du es jemals lernen? Du sollst mich doch nicht siezen!“ ermahnt er mich. Mein Herz beruhigt sich langsam, ganz langsam. „Es kommt mir aber komisch vor, dass ich die einzige bin, die Sie duzen darf. Ich würde es lieber bei Sie belassen.“ „Na gut, wenn es denn sein muss.“ lässt er mich seine Enttäuschung spüren. Toyo beobachtet uns von seinem Klassenzimmer aus. Er lehnt gegen den Fensterrahmen. Er sieht, wie wir zwei miteinander umgehen. So vertraut! Seiner Meinung nach, ist der gemeinsame Gang zur Schule schon zu viel für ihn. Dabei haben wir uns ja eben erst getroffen aber das weiß er ja nicht. Sein knurren wird tiefer und tiefer, umso länger er uns beobachtet. Wutentbrannt schlägt er mit seiner geballten Faust gegen den Rahmen. „Wie kann dieser sogenannte Lehrer es überhaupt wagen ihr so nahe zu kommen. Der Kerl macht mich krank!“ Aus dem Schatten des Raumes erklingt eine zweite Stimme, beruhigend und dennoch streng. „Ganz ruhig Toyo. Du kannst daran nichts ändern. Wenn du dich ihm nähern solltest, egal auf welche Weise, du hättest keine Chance.“ „Wieso denn? Ich trainiere täglich so gut ich nur kann. Warum sollte ich ihn also nicht fertig machen können?“ Von hinten legt der andere seine Hand auf Toyo's Schulter. „Toyo, auch wenn du jetzt trainierst so ändert das nichts daran, dass du der schwächste von uns bist. Wenn du es nicht schaffst dich damit abzufinden, dann wirst du schon bald sterben! Willst du das?“ versucht er es nochmal eindringlicher. Es wirkt. Toyo macht sich wirklich Gedanken. „Misami … nein, natürlich nicht aber … “ „Kein aber! Um deine kleine Schwester beschützen zu können, musst du IMMER behutsam sein. Verstanden!“ muss er erst wütend werden, bis mein Bruder es versteht. Gleich darauf ertönt die Schulglocke. Die anderen betreten das Zimmer und der Unterricht beginnt. Auch ich betrete ungewohnter Weise mit meinem Lehrer zusammen das Zimmer. Er erteilt sofort die Stundenaufgabe, einen Aufsatz. Meine Mitschüler stöhnen frustriert über den Stress gleich in der ersten Stunde. Vertraut flüstert er mir zu, dass ich mich auch setzen soll. Brav gehorche ich, zumindest diesmal. Die nächsten zwei Stunden herrscht absolute Ruhe. Während des schreibens starre ich wieder einmal aus dem offenen Fenster. Jeder Ansatz einer angenehmen Brise ist verschwunden. Es ist brütend heiß und unerträglich, sogar schon jetzt. Während des musterns des Schulhofes mit meinen Blicken, entdecke ich nur ein paar Tierkinder, die sich ihren Spaß nicht nehmen lassen. Sie lenken mich zumindest für einen Moment ab, dann macht mich die Hitzewelle wieder fertig. Mir wird das alles zu viel. Hastig stehe ich auf und lege ihm meinen Aufsatz lautstark auf seinem Tisch. Ich muss aus diesem Raum raus, halte ich mir immer wieder vor. Ich fühle mich nicht gut, bekomme kaum noch Luft. Ich versuche schnell einen Automaten zu finden und mir eine Flasche Wasser zu kaufen. Vor mir dreht sich alles und zeitweise erkenne ich nichts mehr, es wird schwarz vor Augen. So langsam verliere ich auch mein Gleichgewicht. Irgendwo vor mir erkenne ich noch gerade so eine Bank. Wenn ich mich wenigsten setzen könnte, dann ginge es vielleicht bald besser. Ich versuche sie zu erreichen aber ich schwanke hin und her. Meine Beine sind schwer, zu schwer. Sie geben nach und ich sinke zu Boden, alles andere bekomme ich nicht mehr mit. Langsam komme ich wieder zu mir, sehe aber nicht viel. Jemand befiehlt mir streng wach zu werden. Er hockt neben mir und stützt meinen Kopf ein wenig. Er bemerkt meinen schwachen, unregelmäßigen Atem. Als der Mann bemerkt, wie ich wieder zu mir komme, nimmt er die Flasche. Die Spritzer beim öffnen kitzeln meine Wange. Es tut gut. Ein wenig, Schluck für Schluck gibt er mir. Nur zu dumm, dass ich mich kaum bewegen kann. Mein Helfer fasst mir kurz auf meine Wangen. Er gibt eine Bemerkung von sich, dass ich blass sei, freut sich aber auch darüber, dass es sich langsam reguliert. „Was ist denn los mit dir?“ fragt er mich besorgt. Jetzt kann ich auch endlich seine Stimme zuordnen. „Nichts, alles in Ordnung Herr Kusaka.“ krächze ich. „Nichts ist gut. Du kippst doch nicht einfach so mal um! Kannst du wenigstens aufstehen?“ seine sonst du dumpfe, schon fast ruchige Stimme ist jetzt voller Sorge. Ich nicke leicht und er versucht mir auf zu helfen. Er packt mich etwas unsanft am Arm und zieht mich hoch. Natürlich versuche ich mich auf meine Beine zu stellen. Erschöpft stöhne ich laut. Ihm ist klar, dass es mir alles andere als gut geht aber dass es so schlecht sei, hat er nicht erraten können. Er hat mich vollkommen unter Kontrolle in diesem Zustand und so setzt er mich vorsichtig auf der Bank ab, auf die ich mich erst noch setzen wollte. „Sag mal, wann hast du das letzte mal etwas getrunken? Also außer eben und warum hältst du dir deinen Bauch.“ Meine Stimme wird langsam normal aber mein Atem braucht noch seine Zeit. „An meinem Bauch befindet sich … befindet sich eine alte Wunde. Ist nichts schlimmes und getrunken habe ich seit … schon seit einer Weile nicht mehr. Mein Bruder braucht auch etwas und bis heute habe ich … hatte ich noch kein Geld dafür.“ Er schaut von mir weg. Er scheint wütend zu sein, lässt es sich aber nicht anmerken. „Dann braucht man sich auch nicht wunder, wenn du umkippst. Na los, ich bringe dich erst mal zur Schulärztin.“ „Muss - Muss das denn unbedingt sein?“ jammere ich erschöpft und falle dabei gegen seine Schulter. „Und wie das sein muss.“ tief durchatmend erhebt er sich. Meine Schmerzen sind zu groß, um sie ohne gejammer auszuhalten. Also bitte ich meinen Lehrer darum, mich abzulenken. Er muss kurz überlegen, erzählt dann aber ein bisschen etwas. Er lobt meinen Aufsatz. Ich hätte ihn gut geschrieben und hätte das Thema anders als alle anderen aufgefasst. Es ging um das Leben in einer Familie. Außerdem lobt er mein Englisch. Bei so viel Zuspruch werde ich wieder verlegen. „Danke, vielen Dank Herr … ich … ich meine … Itsuko.“ Zufrieden grinst er mich an und mir wird das alles noch unangenehmer aber was soll's. Wir stehen bereits vor der richtigen Tür. Mein Lehrer schiebt sie auf und setzt mich auf einem Bett ab. „Na was haben wir denn hier?“ Doch ich antworte nicht. Da kann sie noch so freundlich sein. Meine nach unten geneigten Blicke fallen auf das Bett rechts von mir. In der Zwischenzeit erklärt er was passiert ist. Das nächste was ich mitbekomme, ist die Stimme der Ärztin. Sie rüttelt an mir, spricht mich an und versucht mich wach zu bekommen. Es ist schon wieder passiert und ich habe nichts mitbekommen. Ich halte mir den Kopf und schaue wieder auf das andere Bett. „Wo ist der Junge aus dem anderen Bett hin?“ „Er ging sofort nachdem er aufwachte. Ich wollte ihn noch aufhalten aber er ließ sich einfach nicht abbringen.“ So etwas würde er doch nie tun oder? Habe ich mich vielleicht versehen und es war gar nicht Toyo? Nein, unmöglich. Ich erkenne doch meinen Bruder … aber warum … „Warum hat er das getan?“ murmle ich undeutlich, so dass die Ärztin es nicht mitbekommt. Ich ziehe meine Beine ganz fest an meinen Körper und schlinge meine Arme darum. In meinem Hals bildet sich ein Kloß, den ich mit aller macht versuche aufzuhalten. Die Frau versteht das alles falsch. Sie setzt sich zu mir und streicht mir über meinen Rücken. Genau das, was ich nicht wollte. Das ist so ungewohnt, unangenehm. Ich will das nicht. Schnellstmöglich befreie ich mich aus ihrer besorgten, zärtlichen Umarmung. Sie soll sich nicht so um mich kümmern, das braucht sie nicht und vor allem will ich es nicht. Die Flasche, die auf dem Tischchen neben mir steht, trinke ich mit einem Zug aus. Ich will jetzt unbedingt gehen und setzte mich gerade wohl genauso durch, wie es Toyo gemacht haben muss. Mit schnellen Schritten schleiche in den Gang entlang. Als ich gerade das Zimmer betrete, klingelt es auch schon. Selbstverständlich denke ich wieder an seine Ernährung. Also packe ich sein Essen ein und mache mich auf den Weg in sein Klassenzimmer. Ich freue mich, dass ich ihn vielleicht sehen kann und hoffe innerlich, dass er auch da ist. Unkontrolliert stolpre ich die Treppen hinunter, nur um dann starr vor der Tür stehen zu bleiben. Erst jetzt kommt mir auch der Gedanke, dass die anderen Jungs da sein könnten. Dieser Gedanke lässt mich fest frieren. Tief einatmend, komme ich der Tür ein Stück näher. Ich hätte nie damit gerechnet, dass gerade jetzt jemand von innen die Tür auf macht. Wieder bleibe ich starr stehen. Er schaut gar nicht nach vorn. „Na los, lasst uns endlich gehen!“ ruft er zu den anderen hinein. Hinter ihm steht noch jemand. Er sieht mich die ganze Zeit über an und fängt an zu lachen. Irritiert schaut ihn sein Freund an. „Pass lieber auf wo du hinläufst, sonst rennst du noch den Kleinen vor dir um.“ Erschrocken schreit er mich kurz an. Das ist mir auch neu. Welcher normale Kerl schreit, wenn er sich erschrickt? Die anderen Jungs in seiner Klasse können darüber jedenfalls lachen. Das dumme daran ist, er scheint mich zu kennen. Hysterisch fragt er mich, ob ich es wirklich bin. Dabei kennen wir uns gar nicht. Das macht die anderen neugierig, also erzählt er von der Begegnung, die wir schon einmal hatten und sein Freund hinter ihm, erkennt mich nun auch. Mehr oder weniger. Nach seiner Erklärung wendet er sich wieder an mich und durchbohrt mich, was ich hier will. Das hilft mir nicht gerade weiter, offener mit ihm umzugehen. Er macht mir Angst und lässt mich ein paar Schritte zurück schreiten. Dabei sieht er das Essen in meinem Arm. Ein Fehler, den ich lieber hätte vermeiden sollen. „Für wen ist denn das Essen in deinem Arm? Vielleicht für mich?“ belustigt er sich darüber. Ohne das ich antworte, macht er weiter. „Und was ist das für ein eigenartiges Cap was du da immer Trägst? Sieht eher aus wie für Mädchen. Junge, das sieht echt scheiße aus!“ Ich verstehe die Welt nicht mehr. Warum macht er sich denn über mich lustig? Warum immer ich? Erst jetzt macht Toyo sich bemerkbar. Er bekommt erst jetzt mit, dass sich seine Freunde da über irgendjemanden lustig machen und so wie er das versteht, kann das nur auf eine zutreffen. Misami!!! Schießt ihm alarmierend durch den Kopf. Er steht hastig auf und muss unbedingt selber nachsehen. „Misami, was machst du hier?“ fragt er mich streng. Mit schnellen Schritten kam er auf mich zu. Alles was er ausstrahlt, wenn er direkt vor mir steht, macht mir Angst. Ich kann nicht erklären wieso aber mein Blut fließt schneller, obwohl es sich anfühlt als würden meine Adern gefrieren. Er ist kaum noch mein Bruder. Ich habe vergessen, was ich hier eigentlich wollte, was ich ihm sagen wollte. „Aber, aber … aber … Toyo … “ meine Stimme wird immer hoffnungsloser, doch er merkt es nicht. „Verschwinde von hier, hast du verstanden!“ gibt er mir den Befehl. Im entflieht dabei wieder ein knurren. Mir gegenüber? Was habe ich ihm getan? In meinem Kopf dreht es sich, vor lauter überschlagenden Fragen. „I-Ich wollte nur … dir nur d-dein Essen bringen.“ Er kommt sich furchtbar vor und hätte im Erdboden versinken können, so tief wie nur möglich. Seine Wut wird immer schlimmer und schlimmer. „Verschwinde endlich!“ lässt er seine Stimme so tief und aggressiv werden wie noch nie. Mir komme Erinnerungen auf, an etwas, was damals Vater tat. Ich sehe wieder diese Nacht, den gleichen Ausdruck und aus dem gleichen Affekt holt er aus und schlägt auf mich ein. Es passiert so schnell, ich bekomme es erst hinterher mit. Das Geräusch hallt noch immer in meinen Ohren. Toyo, Toyo, Toyo! Mehr passt nicht mehr in meine Gedanken. Ich habe mühe, überhaupt stehen zu bleiben. Er hat eine unglaubliche Kraft bekommen. „A-a-aber T-Toyo- … “ Eine Art Feuer entfacht in seinen Augen. „Hast du immer noch nicht verstanden? Du sollst hier VERSCHWINDEN!“ Und er schlägt nochmal zu, noch kräftiger. Seine Freunde begreifen nicht aber sie sehen, dass er das nicht tun sollte. Sie müssen ihn jeweils zu zweit an einen Arm packen, um ihn aufhalten zu können. Obwohl er mich nicht mehr angreifen kann, höre ich deutlich wie er mit seinen Zähnen knirscht und wieder anfängt laut zu knurren. Für nur einen Moment passen seine Freunde nicht auf, da befreit er sich auch schon aus dessen Griffe. Es reicht ihm noch nicht. Vor seinen Augen liegt ein rotes Tuch. Ich weiß nur nicht warum. Noch einmal holt er aus, noch einmal will er mit geballter Faust und Kraft zuschlagen. Er kennt meine Schwachstelle, auch wenn nur aus seinem Unterbewusstsein. Sein Ziel ist nur mir wehzutun. Ohne zu zögern prügelt er mir seine Faust in den Bauch. Seine Knöchel rammt er mir genau da hinein, wo ich hoffte er würde nicht treffen – meine Wunde. Die Schmerzen im Gesicht sind dadurch wie vergessen. Seine Kraft lässt mich diesmal wirklich nach hinten umfallen. Am Boden liegend kringel ich mich hin und her. Ich halte mir meinen Bauch. Mein ganzer Körper zittert und ich kann nicht aufhören. Die Tränen stehen mir in den Augen aber ich halte sie ab, immer und immer wieder. Es durchzieht meinen ganzen Körper. Mein Magen fühlt sich an als wolle er auseinander reißen. Es kommt mir schlimmer vor als damals. Selbst meine Schmerz durchzogenen Bewegungen werden immer schwerer und schwerer. Seine Freunde wenden sich an jemanden der noch im Raum steht. „Bitte sag doch was!“, so und so ähnlich muss ihr betteln klingen. Ich verstehe nicht viel, habe auch nicht die Zeit mich darauf zu konzentrieren, doch die Worte des anderen bleiben mir im Kopf hängen. „Tut mir leid Jungs. Damit muss er selbst klarkommen und wenn er meint, dass das so am besten geht, dann soll er nur machen. Er muss danach nur noch in den Spiegel schauen können.“ Ich bekomme nichts mehr mit, als mich ein Lehrer versucht wach zu bekommen. Es klappt nicht, also nimmt er mich auf seine Arme und trägt mich weg von hier, von Toyo, von seinen Freunden und von den vielen Zuschauern, die es inzwischen gibt. Seine Freunde wissen auch nicht genau was sie sagen sollen. Toyo, der sonst so ruhige Toyo wird plötzlich gewalttätig. „Was sollte das eben werden?“ „Das ist Körperverletzung!“ „Und dann auch noch ein Kind.“, reden alle entsetzt auf ihn ein. „Das geht euch absolut nichts an!“, knurrt er seine Freunde an. Seine Faust zittert noch immer. Er kann sich nicht kontrollieren. Einer seiner Freunde scheint das aber immer noch nicht zu verstehen. „Ich meine, klar, der Kerl sieht ziemlich scheiße aus und man lässt sich nicht gerade gern mit ihm blicken aber das ist noch lange kein Grund ihn dermaßen zusammenzuschlagen.“ Diese Aussage ist zu viel. Sein ganzer Körper zittert vor Wut. Er lässt nur einen abfälligen, mörderischen Blick über seine Schulter fallen. „Du etwa auch noch!“ „W-W-W-Warum?“ „Wenn du es nochmal wagst, meine Schwester zu beleidigen, dann war's das für dich! Dann wachst du so schnell nicht mehr auf! Verstanden!“, so einen tiefen Ton wie jetzt, hat selbst von seinen Freunden noch keiner gehört. „Deine SCHWESTER?!?“, platzt es aus all seinen Klassenkameraden heraus. Sie verstehen ihn nicht mehr und fragen sich, wie man so etwas nur tun kann. Jemanden aus seiner eigenen Familie so zusammen zu schlagen, unbegreiflich, widerwärtig! Schweigen bricht in der Klasse aus. Der Lehrer setzt mich irgendwo ab, anscheinend auf einer Bank. Ich bekomme nicht viel mit aber mein Bewusstsein habe ich wieder erlangt. Er versucht mich anzusprechen aber auch das bekomme ich nicht mit. Ich bin viel zu aufgewühlt. „Misami, hey Misami. Du musst dich jetzt beruhigen und durchatmen.“, doch ich höre ihm nicht zu. Verängstigt weiß ich nicht, wo ich hin sehen soll. Meine Pupillen wandern aufgeregt von links nach rechts. Noch immer bekomme ich keine Luft. Immer wieder versuche ich einzuatmen aber es tut so weh, fällt mir so schwer, dass ich dabei jedes mal anfange zu husten. Es schmerzt genauso sehr aber was soll ich dagegen tun? Er kommt mir näher und packt mein Gesicht zwischen seine Hände. So hält er mich fest im Griff. Er will unbedingt, dass ich ihn ansehe, also kommt er mir mit seinem Gesicht noch ein Stück näher. Sein schwarzes, leicht lockiges Haar berührt sanft meine Stirn, es kitzelt ein wenig. Seine Stimme wird wieder ganz weich und ruhig. Ich habe das Gefühl unter seiner Stimme hinweg zu fließen. „Misami, schaue mich an. Schaue mich an und atme ganz tief ein und aus.“ wiederholt er eindringlich. Langsam realisiere ich, dass er mir versucht zu helfen und ich gebe mein bestes auf ihn zu hören. Ich versuche ihn mit meinen Augen zu fixieren. „Tief durchatmen!“, versucht er es weiter, zärtlich. Er will mir wirklich nur helfen. Ich gebe mein bestes und schaffe es in seine warmen Augen zu sehen. „E-E-Es t-tut so … so weh.“, presse ich zwischen meinen Zähnen hervor. Ich schnappe immer wieder nach Luft und versuche mich zusammen zu reißen. Zum Glück versteht er mich trotzdem. Er legt vorsichtig zwei Finger leicht über meine Lippen. „Nichts sprechen, du sollst doch durchatmen.“ Ich nicke lediglich und versuche es weiter, minutenlang. Es dauert wirklich lange eh mein Atem normal wird. Er wartet so lange neben mir, bis es wieder geht. Er sieht so aus, als wolle er mir fragen stellen. Bedacht lässt er es sein, denn er sieht mir an, dass ich dazu nicht wirklich in der Lage bin. „Du solltest vielleicht doch mal eine Stunde beim Arzt verbringen und dich etwas ausruhen. Dem Unterricht wirst du so nicht folgen können. Man, man, man, heute ist nicht dein Tag!“ Damit bringt er genau das heraus, woran ich gerade denke. Als hätte er meine Gedanken lesen können. Er zaubert mir mit seiner lockeren Art ein kleines, leichtes aber vor allem ehrliches Lächeln auf meine Lippen. Ich stimme ihm einfach zu. Jegliche Diskussion gegen den Arzt wäre zu viel. „Na dann, auf zur Ärztin. Zum zweiten mal heute. Hoffentlich nicht noch einmal.“ Aus irgendeinem Grund entkommt mir ein leichtes Kichern. Er kann zum Glück nicht heraushören ob es echt oder falsch ist aber Herr Kusaka wundert sich, dass ich das überhaupt noch kann, nachdem was mein Bruder mir angetan hat. Er hat es wirklich nicht erwartet. Die nächsten zwei Stunden liege ich regungslos auf einem der Betten. Ich versuche meine Gedanken mit den Geschehnissen zu ordnen. Das ist gar nicht mal so einfach. Es ist mir einfach unbegreiflich, warum er das getan hat. Wieso? Das einzige was ich hin bekomme ist meine Gedanken so wie sie sind nachzuerzählen. Während der zweiten großen Pause bekomme ich sogar Besuch. Er war schnell hier. Bevor er das Krankenzimmer betritt, atmet er tief durch, nur damit nicht auffällt, dass er sich beeilt hat. Er kommt gerade zur Tür hinein, da fragt er mich auch schon, wie es mir geht. Es ist so einfach ihn zu durchschauen, wenn man ruhig auf einem Bett liegt und ihn sich einmal anschaut. „Na los, setzen Sie sich. Ich erzähls' ihnen ja schon.“ Um das zu tun, muss ich noch viel weiter zurück gehen. Ich versuche mich kurz zu halten. Es beginnt alles schon mit der Anmeldung auf der Schule. Uns beiden gehen die gleichen Fragen durch den Kopf. Wieso? Weshalb? Warum? Er und ich haben keine Antwort darauf, also fragt auch keiner den anderen danach. „Geht es denn einigermaßen? Du hast noch zwei Stunden vor dir.“ Mir ist klar, was er will. „Ja, es geht wieder. Ich denke ich werde wieder zum Unterricht kommen aber ich … ich würde mich gern noch bei der Ärztin bedanken.“ „Allein?“ fragt er ungläubig. Ich nicke nur und er geht. Gleich darauf kommt die Ärztin auch schon wieder hinein. Das passt ja. Ich druckse ein wenig herum, eh ich es schaffe sie anzusprechen. Sie geht ein paar Akten durch, währenddessen ich mich bedanke. Verwundert legt sie ihren Stift nieder und schaut mich an. Sie ist erstaunt, denn bisher hat das noch nie jemand getan. Sie dreht sich auch nicht nochmal zu ihrer Arbeit rum. Wahrscheinlich weiß sie, dass ich noch etwas von ihr will. Es ist gar nicht so einfach, nach etwas zu fragen. Die Frau steht nochmal auf und setzt sich zu mir auf's Bett. Dann fasse ich endlich Mut. „Können Sie mir bitte sagen, warum der Junge erst hier war. Ich meine den, der im Bett neben mir lag.“ „Ich weiß nicht genau. Na gut, ok. Er … er hatte einen Nervenzusammenbruch und noch dazu eine stark blutende Wunde am Unterarm. Ein paar Stichen waren nötig aber nichts schlimmes.“ „Ach tatsächlich? Ist denn noch etwas passiert?“ es bereitet mir Sorgen so etwas erfahren zu müssen. Sie belustigt sich daran, dass es mich so sehr interessiert. Dann fällt ihr aber doch noch etwas ein. Neugierig flehe ich sie an, mir mehr zu erzählen. „Ist ja schon gut. Er hat im Schlaf viel geredet. So etwas in der Art wie 'Es tut so weh.' 'Es soll aufhören' 'Es tut mir leid.' und 'Bitte lass mich nicht allein!'. Ich weiß beim besten Willen nicht, was das zu bedeuten hat. Kannst du vielleicht etwas damit anfangen?“ „Nein, noch nicht aber ich werde es herausfinden. Vielen Dank.“ dann verlasse ich auch endlich die Station. Verträumt fange ich dabei an mit mir selber zu sprechen. „Ich werde ihn nicht im Stich lassen, egal was passiert.“
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