„Ähhhm Alexy?“, ertönt eine fast schon gleichgültige Stimme und das mitten im Unterricht. Nach, was soll's, die Stunde ist eh bald vorbei.
Also drehe ich mich nach hinten um, frage nach: „Was gibt's Kim?“ „Wo genau ist dein Freund die ganze Zeit?“ Skeptisch hebt sich eine Augenbraue: „Das interessiert wirklich DICH?“ Sie atmet tief durch, sieht kurz weg und wartet das Klingelzeichen ab, eh sie weiter spricht: „Eigentlich wollen die da das wissen aber ich sollte fragen, also …“ „Wieso? Seit ihr etwa nicht zufrieden, dass er nicht zum Unterricht kommt?!“, reagiere ich ungewollt genervt. Na ja, so ein bisschen stört es mich ja auch, dass er ständig Morgens absagt, die Nacht nicht mal da ist oder am Morgen schon draußen ist. Er sagt nie wo genau er hin geht. Ab und zu erzählt dann aber Kentin wo er am Vortag war und was er gemacht hat, so ganz selbstverständlich. Natürlich wollte ich wissen, woher er die Info's hätte, was MEIN Freund die ganze Zeit macht. Er hat gemerkt, dass mir diese Tatsache nicht wirklich gefallen hat, doch konnte mich schnell beruhigen. „Hey, hey, mal ganz ruhig Großer. Er war im Skatepark und hat mir bisschen was gezeigt. Außerdem schreiben wir bisschen, nichts großartig wichtiges.“, hatte er damals erklärt. Ich konnte das nicht so ganz glauben aber als Harm ein paar Tage später Nachmittags zur Schule kam, um Armin und mich abzuholen, nannte er Kentin völlig automatisch und selbstverständlich „Baby.“ Ich meine … was sollte dieser Spitzname?! Ich war echt sauer, hab's mir bis Heim nicht anmerken lassen und als ich gerade etwas sagen wollte, hält mir Harmony den Mund zu und erklärt mir, dass er das nur sagt wegen Baby-Military. Es wäre die Abkürzung seines Spitznamens, mehr nicht und er sagte, dass er sich so daran gewöhnt hätte, ihn so zu nennen, dass es ihm automatisch raus gerutscht wäre. Anschließend hat er mich wieder geküsst, mir mein Hirn völlig verdreht aber ich habe kein Grund gefunden ihm zu misstrauen, wieso auch … er dürfte ja eh, sogar mit Kentin, wenn er wollen würde. Bei dem Gedanken wird mir nur so schlecht … Ich habe ihm seine Variante trotzdem geglaubt. Warum sollte er auch lügen? Mein Punker lügt nicht. Ich habe die Situation die nächsten Tage sogar beobachtet, bin Harm nachgelaufen und habe da genau das gesehen, was sie mir gesagt haben. Also selbst wenn da mehr zwischen ihnen wäre, dann hätten sie trotzdem nicht mit dem Skateboard fahren gelogen. Sie entdeckten mich natürlich irgendwann und ich sollte mitmachen. Sie wirkten nicht verklemmt oder wie auf frischer Tat ertappt oder so. Alles war ok und meine Eifersucht wurde eingedämmt. Jetzt wusste ich zumindest, wo er ständig war. Im übrigen hatte ich ihn auch gefragt, warum er mir nie erzählt, wo er hin geht oder was er macht. Er hat mich verdattert angeschaut und wollte dann wissen, wann ich jemals danach gefragt habe, was er die ganze Zeit so treibt. Tja … was soll ich sagen … er hat ja recht … Inzwischen sind schon über 2 Wochen vergangen. Er war nur mal in der Schule um die Zettel wegen der Fehltage zu unterschreiben und dann wieder weg. Na ja, und wegen der Proben eben. Daran hält er sich wirklich. Er bringt Nathaniel immer dazu aus der Haut zu fahren. Wir anderen halten uns meist zurück, wollen uns nicht darüber lustig machen, mal abgesehen von Castiel, der genau diese Momente voll ausnutzt. Die Mädchen jedoch … die haben ihn wirklich schon ewig nicht mehr gesehen. Schnippende Finger holen mich ins Jetzt zurück und vor mir taucht das Gesicht eines blonden Mädchens mit zwei verschiedenfarbenen Augen auf. Grün und blau. Misami. Ihr lediglich langer Pony weht ungebändigt in ihrem Gesicht herum. Stark zwinkernd sehe ich mich um. „Na WOW, er ist ja doch noch anwesend.“, höre ich Kim zischen. Sie kann zumindest über meine ständige geistige Abwesenheit noch lachen. Ihr Humor ist glaube ich ziemlich ähnlich dem von Harmony. Die anderen Mädchen hingegen wirken ungeduldig. Ach ja, wen ich mit anderen meine? Also gerade sitzen hier direkt vor mir Misa und Rosa und etwas weiter herum verteilt Viola, Melody und Iris. „Nun sag' schon, Kim hat dich doch eben etwas gefragt oder?“, hummelt Rosalia auf ihrem Platz hin und her. Das scheint sie ja echt zu interessieren, diesmal nicht mal im negativen Sinne, eher aus reiner Neugierde. „Also … das ist eigentlich eine gute Frage. Ich weiß es nicht. S-Solange er heil am Abend oder noch besser schon am Nachmittag wieder bei mir auftaucht, ist alles in Ordnung.“ „Jaaaa aber er müsste doch zur Schule kommen.“, interessiert auch Viola. Sie spricht in letzter Zeit irgendwie mehr als sonst. Woran das wohl liegt? „Na ja, er sieht das etwas lockerer. Er hat sich ja nur angemeldet wegen dem Konzert und er hat ja schon vorher oft genug darüber geredet, dass er Schule nicht mag. Ich glaube, die eine Woche war ihm einfach schon zu viel.“ „Dein Freund ist echt ä-ähm a-anders.“, versucht sich Melody freundlich auszudrücken. Ich glaube, sie sind eigentlich wieder ziemlich schockiert darüber, dabei haben sie es doch selbst miterlebt. Sie haben miterlebt, wie mein Freund in der Schule, im Unterricht drauf ist. „Aaalso wird aus dem Shoppen nichts mehr?“, kommt Rosa auf den Punkt, der ihr wohl am wichtigsten wahr. Sie geht wirklich zuuu gerne einkaufen. Wenn ich könnte, würde ich ja auch aber was das angeht hat sich wirklich noch nichts getan. Ich zucke nur mit den Schultern, weiß nicht, was genau ich darauf antworten soll. „Also habe ich recht?“, will Rosa nochmal sicher gehen, „Dabei hatte er doch gerade mal 'nen Pluspunkt gesammelt. Wie schade.“, seufzt sie. „Ich glaube einfach, ihm sind diese sogenannten Pluspunkte völlig egal. Ehrlich gesagt warte ich ja darauf, dass er es nochmal anspricht.“ „Warum fragst du nicht?“, will Iris wissen. O man, was ist denn heute los mit denen? Vermissen sie ihn schon oder was? … also ich auf jeden Fall … „Ähm-ähh ja a-also das … so viel reden wir in letzter Zeit nicht. Er ist immer ziemlich müde, hat oft schlechte Laune und da hält er mir oft den Mund zu o-oder so etwas ähnliches.“, werde ich beim letzten Gedanken rot und die Anderen verstehen sofort was ich meine. „Also verbietet er dir den Mund?“, hinterfragt Melody skeptisch. Die Stimmung von eben fängt schon wieder an zu kippen und ich hatte mich schon so gefreut, dass sie wirklich mal Interesse zeigen. So oder so habe ich nur ein Kopfschütteln für ihre Theorie übrig, „Nein, so ist es nicht. Er kann mir sogar immer ziemlich gut ansehen, ob ich etwas sagen will oder nicht. Manchmal stimmt es, da verbietet er mir komplett den Mund aber das passiert nur, wenn ich mich grundlos aufrege und er eh schon schlechte Laune hat. Das ist dann besser für die Gesamtsituation. Wenn da aber etwas dringendes zu bereden ist, vergisst er das auch nicht so einfach. Es wird nur aufgeschoben.“ Misami neigt ihren Kopf zur Seite. Sieht aus, als würde sie nachdenken und spricht dann ihre eben zusammengeworfenen Gedanken aus: „D-Das klingt erwachsener als es in Wahrheit wirkt. Er ist einfach nur absolut egoistisch, eingebildet und – und …“ „Dominant, ja, Harmony ist dominant, das und nichts sonst.“, unterbreche ich sie. Die Mädchen sind still. Mir kommt es vor, als wäre es die einzige Situation, in der sie mir endlich mal glauben würden, also rede ich so ruhig weiter, wie eben schon angefangen, „Ich habe ihn wirklich, wirklich sehr, sehr gern. Harmony ist mir so wichtig wie sonst niemand.“ „Und Armin?“, kommt sofort als Einwand, von allen. Er selbst sieht kurz von seinem Spiel auf, zu meiner Bank herüber, auf der er mich hat allein sitzen lassen. Sein Blick sagt alles, doch er spricht es auch noch aus: „Ging es eben um mich?“ Er wartet nicht mal die Antwort ab, spielt gleich darauf weiter. Das Schmunzeln der Mädchen ist ehrlich, auch ich lache über ihn. „Er ist mein Zwilling. Natürlich mag ich ihn aber nicht … soooo! Hach, na gut, wenn ihr das so deutlich hören wollt: Ich-liebe-Harmony!“ Wieder sind die Mädchen still. Kann es sein, dass sie das endlich begriffen haben? Keine Proteste mehr? Rosalia neigt sich ein Stück nach vorn, legt ihre Hand auf die meine und sieht mich verträumt und mit einem ehrlichen Lächeln an: „Na gut, dann erzähl uns doch etwas über ihn, etwas positives. Wir können es wirklich nicht verstehen aber – aber du bist unser Freund, Alexy. Meinst du also, er wird dich nochmal auf's Shoppen ansprechen?“ Hjjaahh, war ja klar, dass sie das wieder am meisten interessiert. „Ich weiß es nicht Rosa. Wenn er die Tage nichts mehr dazu sagt, dann werde ich mal nachfragen. Es wäre nur vom Vorteil, wenn er bessere Laune dafür hat.“ „Er ist ja schon sehr eigenwillig, nicht wahr?“, fragt sie ziemlich vorsichtig. Ich grinse sie breit an und meine nur: „Ja, klar doch, normal ist ja langweilig. Außerdem hat er einen sehr schönen Körper, überall nur Muskeln.“ „Aber er ist kleiner.“, mischt sich Kim diesmal mit ein. Ich drehe mich auf meinem Stuhl um und grinse auch sie breit an. Es ist endlich mal ein gut gewähltes Thema und ich kann ganz offen von meiner Beziehung reden, ohne dass sie sofort mit ihren Vorurteilen ran rücken. „Glaube mir, das fällt überhaupt nicht auf. Man darf ihn echt nicht unterschätzen. Ich vergesse ständig, dass er einen Kopf niedriger ist als ich.“ Misami beschwert sich noch als Einzige, fast schon leise: „Das wundert mich gar nicht, so verknallt wie du in ihn bist.“ Nochmal muss ich mich auf meinem Platz wenden, blicke zur Blondine, die es anscheinend nicht begriffen hat. „Erinnere ihn daran und er wird dir schon zeigen, dass Größe keine Rolle spielt.“ „Ähhhm Alexy? Du weißt, dass das jetzt ziemlich zweideutig war oder?“, entspringt es förmlich aus Melody's Mund. Ich spüre nur noch Hitze in meinen Wangen aufkommen, lasse meine Blicke lieber auf den Boden sinken. „Ja a-also das Thema … das hatten wir wie gesagt noch nicht. Das wäre jetzt auch ein bisschen zu viel, meint ihr nicht?“, murmle ich nervös und spiele mit selbigem Gefühl mit meinen Fingern herum. Die Antworten der Mädchen sehen alle gleich aus: „Wehe du gibst uns darüber Details!“ „Könnte ich ja nicht mal, selbst wenn ich wollte.“, piepse ich angestochen hoch. Das geht doch echt zu weit. Ihre Kommentare treiben mich nur dazu an weiter zu sprechen. „O, ach so? Das ist also wirklich ernst gemeint, ja? Will er etwa nicht?“, sind mal wieder die Reaktionen aller. „N-Nein, ich will nicht. Ich traue mich nicht und – und er wartet eben. Er kennt auch die Gründe dafür. Es haben bisher alle Verständnis gezeigt aber noch nie hat wirklich einer gewartet. Auch wenn ihr das nicht glaubt aber Harmony meint es auf jeden Fall ernst. Ich bin mir ganz sicher.“ Sobald ein leises Quietschen ertönt, richten sich meine Blicke wieder nach oben. Das sind Iris, Melody und Rosa, die sich gerade wegen irgendetwas ziemlich zu freuen scheinen. Sie sind ganz angespannt und etwas rot. „Erzähl mehr, na los. Das klingt zur Abwechslung ja wirklich mal nach was gutem. Was gibt’s da noch so zu erzählen?“, mag Rosa wissen, ehrlich und genauso grinsend wie die anderen Mädchen. Na endlich, sie sind mal nicht total abgeneigt und zeigen kaum noch Hass. „Hmmm, also – also da gibt es schon noch etwas.“ „Und was?“ „Ja was?“, haken sich die anderen Mädchen mit in Rosalial's Frage ein. „Na ja, mit Harmony an seiner Seite, da – da braucht man vor nichts mehr Angst zu haben. Er kann sich jetzt nicht von hier nach da zaubern oder innerhalb von Sekunden Kilometer zurück legen und neben einem auftauchen, wenn man Ärger oder Probleme hat a-aber wenn man mit ihm zusammen unterwegs ist, braucht man sich nicht zu verstecken oder vor irgendjemandem Angst haben. Er hat schon einen ziemlich ausgeprägten Beschützerinstinkt. In solchen Momenten merkt man am aller deutlichsten, wie sehr er mich auch mag.“, erzähle ich ihnen immer verträumter. „Woaaar, wie süß. Ich wünschte Leigh würde das so ernst nehmen. Er ist zwar auch immer für mich da aber bei dir hört sich das viel schöner an.“ „Warum sorgst du dann nicht öfter dafür, dass er das macht?“, führt Misami eine Frage aus, die mich stutzig werden lässt. „Wi-Wieso sollte ich?“ „Na, wie du eben sagtest, er zeigt dir genau dann, wie sehr er dich mag. Das kommt doch bestimmt nicht all zu oft vor oder?“ „N-Nein, stimmt schon aber … ich weiß nicht.“, schüttle ich den Vorschlag mit einem Kopfschütteln von mir ab. Die Mädchen aber sehen begeistert aus von der Idee. „Ist es nicht viel schöner so einen Moment zu haben, in dem man merkt, sieht, spürt wie wichtig man einem Menschen ist? Das ist doch das, was jeder will oder nicht?“, schwärmt auch Melody von einer solchen Situation. „Außerdem will man doch ab und zu wissen, woran man noch ist an einer Person.“, pflichtet auch Iris dem ganzen bei. Ich glaub's ja nicht. Wollen die jetzt wirklich, dass ich mich mit Absicht in eine solche Situation begebe, nur um Harm wieder an meiner Seite zu wissen? Hier geht’s doch aber nicht mehr ums Shoppen oder? Das wäre wirklich eine Nummer zu hart. „Nein, tut mir leid a-aber wirklich nicht. Das wäre nicht der richtige Weg dafür.“ Enttäuscht lassen sich die Mädchen auf ihre Sitzplätze fallen und atmen tief aus. „Na, wenn du das meinst, dann eben nicht.“ „Wir können dir wohl sagen was wir wollen, hmm?“ „Dann halt nicht …“ So und so ähnlich lauten ihre Kommentare, doch die Aussage dahinter ist immer die selbe. Ob ich ihre Gunst nun wohl wieder verloren habe? Wenn ja … sind sie dann wirklich meine Freunde? Sind sie gute Freunde? Na toll, jetzt stelle ich mir wieder solch viel zu anstrengenden Fragen. Ich merke, wie die Frustration der Runde auf mich abfärbt. Ich lege mich nur noch auf die Bank und lasse meinen Finger Kreise in die Bank zeichnen. Überlegend, eine ganze Weile des Unterrichts überlegend, hole ich mein Handy hervor und habe den Drang danach ihm zu schreiben. Ich habe das Gefühl zu platzen oder mindestens meinen Kopf zu verlieren, wenn ich es nicht tue. „Ich vermiss dich hier neben mir. ♥♥♥“ Seine Antwort dauert ein paar Minuten, in denen ich ungeduldig auf mein Display starre. „Hast mich Abend wieder ganz für dich.“ Ich brauche nur Sekunden für meine Antwort: „Erst Abend?“ „Was sonst …“ Seine Laune ist also wieder mies aber ich brauche das jetzt, ich brauche ihn. O man, u was bringt mich dieses dämliche Gespräch von eben denn?! „Darf ich nicht mit zu euch? Zum Skatepark?“ „Euch? … Bin allein in der Stadt.“ „Was machst du da?“ „ … Akku leer …“ Hmm, na toll. Ob das wohl nur eine Ausrede war? Die paar totgeschlagenen Minuten haben … zumindest ausgereicht mich abzulenken. Was die Mädchen gesagt haben ist Blödsinn und bei der Meinung bleibe ich auch. Die letzte Stunde vergeht und ich kann endlich Heim. Jetzt heißt es nur noch bis Abend warten und dann … „O hey, schon Schulschluss?“, holt mich eine aufgeweckte Stimme aus meinen Gedanken. Er hat sich glaube ich sogar erschrocken, hat sich ruckartig zu mir umgedreht, als ich ins Wohnzimmer kam. „Du – Du bist ja schon da.“ „Joa, sagte ja Akku leer. Hatte's Kabel nich' mit.“ Mein Blick schweift ab auf den Tisch. So wie es aussieht ist er wirklich noch nicht lange da und trotzdem hat er schon getrunken, viel getrunken. Man merkt es ihm wie immer nicht an. Schmollend presse ich meine Lippen hart aufeinander, sehe wieder zu ihm. Er merkt es nicht, nimmt sich gleich die nächste Flasche, sogar zwei, als er Armin sieht, der sich gerade an mir vorbei schlängelt. Ihm gibt er auch eine. Er macht meinen Zwilling nochmal richtig abhängig davon. Das gefällt mir auch nicht wirklich. Die Beiden spielen sofort los. Er will nicht mal, dass ich mich zu ihm setze. Meine erste Begeisterung, dass er doch schon hier ist, sinkt stetig. Sieht er denn nicht, dass ich es nicht mag, wenn sie so viel trinken? Und sieht er auch nicht, dass ich wenn schon an seiner Seite sitzen will, anstatt hier nur wortlos im Raum zu stehen? „H-Hunger?“, frage ich mit gesenkten Blicken nach, wende mich schon automatisch der Küche zu und höre dann schon das „Klar doch.“, beider Jungs. Selbst mit fertigem Essen nimmt er mich nicht zu sich, so wie sonst. Ich muss erst seine Beine vom Sofa schubsen, um meine dann darüber zu legen. Erst dann reagiert er auf mich, setzt sich ordentlicher hin und rutscht so von Armin weg. Mein Bruder fällt dadurch haltlos nach hinten um, seine Stütze ist schließlich weg. Er fällt aber nur gegen meine Beine, anstatt ganz auf Harmony's Schoß zu sinken. Mein Freund lacht ihn in der Zeit aus, so wie immer eben aber Armin bleibt einfach so liegen. Tja, jetzt sitze ich zwar bei ihnen und ganz nah bei meinem Freund, fühle mich aber irgendwie ziemlich weit weg, selbst als er seinen Arm um mich legt und mich dazu auffordert selbst etwas zu essen. Irgendwie … ist die sonst so angenehme Wärme heute nicht vorhanden, heute nicht und die letzten zwei Wochen war sie auch eher spärlich vorhanden. Kann er mir wohl doch nicht so gut ablesen was ich will, was ich brauche? Vielleicht war mein Kopf doch zu vernebelt, um das zu sehen. Die Tage vergehen und unweigerlich muss ich mich immer wieder fragen: Wie sehr mag er mich wirklich? Wir reden nicht mehr wirklich miteinander. Nur so grundlegendes, guten morgen, wie geht’s, was neues passiert? Und nie kommt eine wirklich deutliche Antwort auf meine letzte Frage. Er ist eigentlich auch immer müde und wenn er es mal nicht ist, bin ich es. Dann sieht er mich einfach an und wir gehen nach oben. Inzwischen ist es wieder Montag und ich sitze wieder allein im Unterricht. Ich glaube, die Mädchen haben schon gemerkt, dass meine Laune nicht immer so gut ist, wie sie es gewohnt sind. Ich weiß einfach nicht mehr was ich denken soll, ohne sofort das Schlimmste zu vermuten. Stattdessen fallen mir immer wieder die Worte der Mädchen ein, was sie sagten und was sie vorgeschlagen haben. Die meiste Zeit frage ich mich also nur noch: Mach ich's oder mach ich's nicht? Das „nicht“ lässt dabei immer mehr nach, die Argumente schwinden … Wir haben uns heute ausgemacht, dass er zumindest mal wieder zum Schulschluss vorbei kommt. Er soll wieder Zettel unterschreiben und dabei holt er mich gleich mit ab. Als wir nun also Schluss haben, gehe ich mit einem in letzter Zeit selten gesehenem Lächeln nach draußen … und da ist es auch gleich wieder weg. Noch ein Argument, was dagegen spricht. Sein Versprechen, dass er schon draußen auf mich warten würde, wenn ich raus komme, war also gelogen. Harmony hat gelogen … zum ersten mal gelogen … Wieso? Verdammt wieso?! Er ist nicht hier und kommt auch innerhalb der nächsten Minuten nicht eilig hier angefahren. Allein hier stehend, wartend, erklingen mir doch bekannte Töne. Im ersten Moment habe ich noch gehofft, doch zerstöre mir die Hoffnung schon selbst, bevor es die Realität tun kann. Er ist es nicht, habe ich mir gesagt. Trotzdem bin ich neugierig genug, um dem Geräusch nachzugehen, zu schauen, wer das ist. Mein Weg führt mich außerhalb der Schulmauer entlang, in den Park, der sich direkt dahinter befindet. Da habe ich Harmony noch nie gesehen und deswegen weiß ich auch, dass er da nicht ist. Zu spät jedoch fällt mir ein, dass es trotz allem die lauten Rollen von Skateboards sind, die mich haben neugierig werden lassen. Ich brauche nur auf dem sandigen Weg stehen und die kleinen Rampen sehen, da haben die Jungs mich auch schon entdeckt. Verdammt. Was habe ich mir nur dabei gedacht? Ja, okay, ich war soweit zu sagen, dass ich so eine Situation herbeirufen will a-aber doch nicht, wenn Harm nicht bei mir ist. So kann ich doch nicht mal erwarten, dass er überhaupt auftaucht. Trotzdem – Trotzdem … ich wünsche mir gerade nichts mehr, als dass er doch solche Zaubertricks könne und binnen Sekunden neben mir stehen würde. Meine Augen zusammenkneifend und innerlich schreiend, weiß ich schon längst, was als nächstes kommt. „Ahhh, na wen haben wir denn da?!“ „Mutig, mutig, kleine Schwuchtel!“ „Sage nur, du traust dich allein her. Wo ist denn heute dein kleines Anhängsel, hmm?!“ Genau diese drei – diese drei Idioten sind es, die mich ständig verfolgt und aufgezogen haben. Ihr Verhalten wurde immer schlimmer. Anfangs konnte ich es noch tolerieren, später dann wenigstens noch ignorieren aber als sie anfingen handgreiflich zu werden und zuzuschlagen … nein, da konnte ich nichts mehr tun. Deswegen – Deswegen wünsche ich mir gerade nicht so dumm gewesen zu sein und allein hier her gegangen zu sein. Wieso denke ich erst nach, wenn es zu spät ist? Jetzt bleibt mir nichts anderes mehr übrig als weg zu laufen. Nur wo hin? Mein Körper reagiert, bevor mein Kopf so weit ist. Mir ist völlig klar, dass sie auf ihren vier Rollen viel schneller sind als ich und das nutzen sie voll aus. Ich merke, dass sie sich um mich sammeln, während ich immer noch versuche verzweifelt wegzulaufen. Einer hinter mir und die anderen beiden jeweils rechts und links. Ich sehe nicht zu ihnen, das könnte ihnen noch gerade so passen. Mein Blick ist nach vorn gerichtet und ich merke endlich, dass ich genau den Weg zurücklege, den ich eben schon mal gegangen bin. Ich weiß, dass sich um die nächste Ecke das Tor zur Schule befindet a-aber wenn ich nicht schneller bin als der neben mir, dann komme ich da nie hin. Ich merke, wie der Hinterste sich an mir festhält, meine Jacke packt und mich finster angrinst. „Komm schon.“ „Gib auf!“ „Lass uns doch spielen, so wie sonst auch immer!“, drohen mir die Drei mit einer viel zu überzogenen Stimme, als würden sie es freundlich meinen. Sie haben ihren Spaß daran, machen sich lustig, lachen laut a-aber ich habe eine scheiß Angst davor mich wieder im Krankenhaus vorzufinden und nicht mehr sprechen oder sehen zu können. Aus der Angst heraus schaffe ich es endlich einen Schritt schneller zu sein, einen Schritt vor ihnen, auch ohne ein Skateboard die Ecke zu erwischen und mich auf den Schulhof zu wenden, doch wie bereits gesagt, … mein Kopf ist nicht so schnell. Ich habe nicht nachgedacht, keine Sekunde lang. Direkt vor mir stehen ein weißhaariges und ein blondes Mädchen, dahinter auch die anderen. Sie sehen mich mit großen Augen an, sind erstarrt. Warum? Warum sind sie noch da? Hier sollte keiner mehr sein. Ich hätte nie geglaubt, dass noch jemand da sein würde. Ich dachte, ich wäre hier allein und ich könnte mich in der Schule verschanzen a-aber diese Situation … nein, das habe ich alles nicht gewollt! Nicht so!!! Schwer atmend, keuchend und schluckend, bekomme ich trotzdem kein Wort heraus. Ich packe einfach nach ihnen und drücke sie von mir weg, Richtung Schule zurück. „W-Was ist denn …“ „Was hast du denn, A…“ Beide Mädchen schweigen, als sie die Jungs hinter mir sehen. Jeder schlägt eben seine Faust in seine jeweils andere Hand und man hört deutlich die Knochen ihrer Fingerglieder knacken. Die Augen aller Mädchen werden größer und bei glatt der Hälfte steht der Mund offen. „Jetzt geht schon!!!“, schreie ich sie atemlos an. Es quält mich zu wissen, dass sie DAS jetzt mitbekommen und ich hoffe, bete einfach dafür, dass die Drei es bei mir belassen. Hauptsache den Mädchen passiert nicht auch noch etwas. Ich merke, wie sie auf mich hören wollen, wie sie flüchten wollen aber ihre Körper sind erstarrt. Sie merken die Angst in mir und auch die Wut und Gewalt in den Jungs. Wieder haben sie sich um mich gesammelt, drängen uns alle immer weiter Richtung Mauer, die ich eben noch als Schutz gesehen hatte. Nun ist genau diese Mauer meine, unsere Falle. Verdammt! Verdammt, verdammt, VERDAMMT!!! Selbst wenn ich stärker wäre, wenn ich mehr Kraft hätte, ich könnte mich niemals gegen alle wehren und wäre wohl auch nicht in der Lage alle Mädchen davor zu schützen. Es fühlt sich hoffnungslos an. Ich versinke immer mehr im Boden, werde immer kleiner gemacht. Die Drei hören nicht auf mich zu beleidigen und kommen etappenweise, Schritt für Schritte näher. Sie kosten ihren Moment voll aus. „Allein bist du wohl nicht mehr so stark, was Kleiner!“ „Aaaawww, da traut er sich nicht mal mehr was zu sagen, wie süüüß! Das hättest dir vorher überlegen können!“ „Scheinst ja richtig auf den abzufahren!“ „Hoffentlich hast dich ordentlich von deinem Typen durchnehmen lassen, denn ich verspreche dir, wenn wir fertig sind, wird dich keiner mehr anfassen wollen!!!“, droht mir letztendlich der Größte von ihnen. Ich muss etwas tun, etwas versuchen, wenigstens die Mädchen da raus halten. Unter Druck und im gefühlten Zugzwang gehe ich dem in der Mitte einen starken Schritt entgegen und dann platzt aus mir heraus: „Und was ist mit euch?! Nicht ich bin derjenige, der sich im Geheimen in irgendwelchen dunklen Gassen von ihm durchnehmen lässt! Wir sind wenigstens ehrlich genug es zuzugeben! Fühlt euch so toll ihr wollt, ihr steht noch weit unter mir und DAS könnt ihr in keinem Falle kaputt machen!!!“ Ich realisiere erst nach gesprochenem, was ich da lauthals von mir gegeben habe. Es ist nicht einfach nur, dass die Mädchen jetzt wissen, dass wir eine halboffene Beziehung führen, es ist eher die Art, mit der ich diese Typen noch aggressiver gemacht habe. Sofort nehme ich beide Hände vor meinen Mund. Mein erstarrter Blick fällt dem Boden zu und ich habe Angst überhaupt noch zu atmen, so scharf ist die Luft zwischen uns eben geworden. Im gleichen Zug pressen sich kleinen Tränen aus meinen Augen, die ich eigentlich nicht loslassen will. Es ist ja meine eigene Schuld, dass es so weit gekommen ist. Ich sollte mich fernhalten, wenn er nicht bei mir ist. Er hat es mir gesagt, so oft befohlen! Das hier … ist alles meine Schuld … Mir ist in all der Zeit, in der ich mehr und mehr meinen Fehler realisiere, nicht aufgefallen, wie die Drei in ihrem Tun inne halten. Ihre Blicke gehen nach oben, direkt auf den oberen Abschluss der Mauer. Ich sehe nicht, was sie sehen aber doch ist da nun ein Schatten direkt unter meinen Füßen. Er – Er kann also doch zaubern und taucht einfach so auf, aus dem Nichts, hier direkt über mir, uns. Harmony hockt auf der Mauer, hat seine Arme über seine Knie geschlagen und streckt sie nach vorn aus. Sein Blick geht durch seine Arme hindurch, direkt in die Augen der drei Jungs, seiner Jungs. Ich spüre Erleichterung in mir aufkommen, unerklärliche Erleichterung, als ich höre, wie eine Flasche unweit von uns in alle Einzelteile zerspringt. Sie ist an der Schulmauer rechts von uns abgeprallt. Es ist, als würde ich die Scherben in Zeitlupe fallen sehen, als würde es ewig dauern, bis sie den Boden erreichen. Diese Scherben … erinnern mich an etwas und als sie hell hallend auf dem Boden aufkommen, schließen sich unweigerlich meine Augen. Ich spüre meinen Körper mehr verkrampfen als zuvor schon. Harm tut es den drei Jungen gleich. Er legt seine Finger ineinander und streckt seine Handflächen nach vorne durch, bis auch seine Glieder laut knacken. Seine Ausstrahlung ist böser denn je, wie eine schlechte Aura, einfach gruselig. „Ähm Jungs … ihr habt da glaube was falsch verstanden, hmm?!!!“ Auf die Körper aller legt sich eine tiefe Gänsehaut. Jeder Ton seiner Stimme ist so tief und von so viel Hass getränkt, dass die Mädchen sogar zusammen zucken. Der Schalter in meinem Kopf, der mich einiges verdrängen lies, hat sich plötzlich wieder umgestellt. „Ich … weiß es wieder …“, stammle ich zusammen, schwer, atemlos. Ich weiß wieder, warum ich seinen Drang andere zu schützen mehr verfluche als liebe. Es hört sich alles so toll an, so wunderschön a-aber … „Der – Der Grund, warum mich diese Jungs in Ruhe lassen … ist Harmony.“ Er ist … noch gewalttätiger, noch aggressiver, noch kälter als seine Jungs. Er ist nicht irgendwer. Er ist ihr Anführer. Er hält sie unter Kontrolle. Als sie mich damals zusammen geschlagen haben, ist er auch aufgetaucht, hat mich auch be-beschützt, ihnen wehgetan. Sie verfluchten das was ich mag, hassten mich für etwas, was eigentlich völlig normal sein sollte. Ich war zwar nicht dabei a-aber ich bin mir sicher, dass er ihnen anschließend ganz klar gezeigt hat, dass sie sich nur hinter einer Fassade verstecken und ihr vorgehaltenes Spiegelbild nicht ertragen konnten. Sie wollten es genauso. Eifersucht versteckt in Aggression. Diesmal fühlt es sich anders an, gefährlicher, gnadenloser. Als wäre das damals – das damals ihre einzige und letzte Chance gewesen. Sekunden darauf sollte ich auch zu spüren bekommen wieso. Ihre Chancen sind einfach verspielt worden … In einer fließenden Bewegung stürzt er sich von der Mauer herunter, holt weit aus und springt förmlich auf einen seiner sonstigen Freunde. Seine Faust zieht er voll durch. Er nutzt extra die Knöchel und erwischt mit einem Schlag sein Gesicht, seinen Wangenknochen, den man mit einem lauten Knacken deutlich hören kann. Die Mädchen zucken wieder, wachen aus ihrer Starre aus. „Was …“, murmelt Rosa. „Das sind … seine Freunde, seine Gang. Sie ließen mich nur – nur deswegen in Ruhe.“, murmle ich genauso leise, wie in Trance. Ich weiß nicht, was die Mädchen jetzt von ihm halten, wie sie anfangen ihn neu oder weiter zu bewerten. Meine Gedankenwelt reicht nicht aus, sich darüber auch noch den Kopf zu zerbrechen. Ich beobachte das Geschehen erstarrt mit … habe Angst … Der eben noch so vorlaute Typ, der Größte von ihnen, taumelt schrittweise zurück. Man merkt, dass er schwer zu kämpfen hat überhaupt stehen zu bleiben. Ihm wird beim Fall geholfen, durch sofort folgende Schläge, gezielt in den Magen, gegen die Brust, die andere Seite des Gesichts und der Stirn. Sogar im Fall macht Harmony weiter, schlägt, solange er das aus dem Stand noch tun kann und tritt, als der andere bereits am Boden liegt. Er tritt weiter auf seinen Magen ein, ohne Gnade, ohne einen Gedanken an Richtig oder Falsch zu verschwenden, einfach immer weiter drauf und drauf. Die anderen Beiden sehen das nicht als Anlass abzuhauen, Angst zu bekommen. Sie werden wütend, noch wütender als zuvor und wollen gerade dann auf meinen Freund los gehen, als der sich am Boden um den Dritten kümmert. Ich meine, darum kümmert, dass er nicht mehr aufstehen kann. Ich sehe erst im zweiten Moment, wie einer der stehenden eine Waffe zieht, ein Messer. Obwohl mich alles in einen Schock versetzt, macht mir diese Tatsache noch viel mehr Angst. Eine Hand ausstreckend, gewillt etwas zu tun, entflieht mir nur: „Pass auf!“, doch das kam schon viel zu spät. Er hat es selbst gemerkt, hat keine Angst davor gezeigt. Seinen Arm hat er sogar danach ausgestreckt und bewusst seine Hand in die Klinge gleiten lassen, um so zupacken zu können. Mit seiner rechten holt er genauso aus wie eben schon. Der Typ vor ihm will im selben Moment loslassen, als es schon wieder zu spät ist. Auch er bekommt die Faust ab. Das Blut spritzt sofort aus seiner Nase, seinem Mund. Das Messer sinkt einfach auf den Boden. Er hat es heraus gezogen, ohne darüber nachzudenken und wirft es in irgendeine Ecke. Er zeigt keinerlei Schmerzen. Wie stark der am Boden liegende blutet weiß ich nicht. Ich trau mich nicht nachzusehen. Meine Blicke verharren an jeder einzelnen Bewegung meines Freundes. Der Zweite gibt eher nach als der Erste, fällt nach wenigen Treffern dem Erdboden entgegen, mit dem Bauch am Boden, versuchend sich mit seinen Händen abzufangen. Harmony macht weiter, nimmt sofort wieder seinen Fuß. Der untere knickt vom Vierfüßlerstand ein, als Harmony genau seinen Rücken trifft. Ich habe das Gefühl diesmal hätte es mehr geknackt und unter anderem auch seine Wirbelsäule. Er gibt keinen Ton mehr von sich, bewegt nur spärlich ein paar Finger in Richtung zersprungenes Handy. Nichts, keine Chance. Diese kleine Bewegung reicht aus, damit Harm sich erneut, genauer auf ihn fixiert. Ich sehe sein breites, offenes Lächeln und seine weit aufgerissenen, fast schon von Freude erfüllten Augen. Er hat die selben Linsen drinnen wie vor 3 Wochen. Nun sieht er wirklich aus wie ein Dämon, nein, ein Teufel. Ihm bleibt nur nicht die Gelegenheit weiter zu machen, wo er eben beim Zweiten aufgehört hat. Der Letzte nutzt die Gunst nicht gesehen zu werden, schlägt zurück oder versucht es zumindest. Harmony merkt es, sieht den schnellen Schatten am Boden und dreht sich lediglich um. Er hält seinen Arm vor seinen Kopf und fängt den Schlag des anderen ab, fängt ihn so ab, dass er sofort nach genau diesem Arm greifen kann. Er hält sich an seinem dritten Opfer fest, nutzt den Aufschwung seiner Bewegung und lässt seinen Körper in der Luft so rotieren, dass er ihn mit einem Tritt seitlich niederreißen kann. Vom unvorhergesehenen Zug irritiert, bleibt er für einen Moment am Boden liegen. Was Harmony damit sagen will? Du kommst auch noch dran, immer schön hinten anstellen!!! Er atmet nur einmal tief durch, eh er sein Knie auf den Rücken, direkt zwischen den Schulterblättern des eben „vernachlässigten“ Zweiten fallen lässt. Er lässt sich Zeit, sieht, wie er verzweifelt versucht nach seinem Handy zu greifen und lässt ihn ganz langsam wissen, dass er es niemals erreichen wird. Harmony kommt der tastenden Hand mit seiner eigenen näher, wirkt fast schon wieder beruhigt und sanft, doch sein Blick spricht Bände. Er sieht aus, als wolle er – als wolle er ihn … Er packt nach dem Handgelenk seines Opfers, zieht den Arm zu sich ran, zieht beide Arme zu sich ran. Von den Handgelenken packt er tiefer, tiefer bis zu den Armbeugen, reißt ihm da Wunden in die Haut, als er fest genug zupackt, zupackt und beide Arme nach hinten zieht. Durch sein Knie, welches den Jungen am Boden hält … folgt sein Körper nicht seinen Armen. Harmony wendet genug Gewalt an, um ihm die Gelenke in einem Ruck auszurenken. Selbst beim Brechen einiger Knochen war der dafür bestimmte Ton nicht lauter als das Knacken der eben herausgesprungenen Gelenke. Die Mädchen, ich, wir halten uns alle die Ohren zu, sehen leidig und erstarrt zu. Das psychopathische Grinsen meines Freundes lässt nicht nach. Er genießt diesen Moment, er genießt es genauso, nein, noch mehr wie damals, wie die paar Male, in denen er sich vor mich gestellt hat. Der Aufschrei des gequälten Jungen ist unmenschlich, laut, verzweifelt. Er bettelt um Hilfe, in den paar Tönen die er mit gebrochenem Kiefer noch sprechen kann. Niemand traut sich, niemand kann sich regen, doch als mein schwarzhaariger, dämonischer Freund noch immer kein Ende an ihm findet, löst sich in mir ein Aufschrei. Ich sehe nur, wie er in das Haar des am Boden liegenden greift, weitere tiefe Kratzer hinein ritzt mit seiner blutüberströmten, vom Messer befreiten Hand und erkenne, was er tun will. Nervös, mit einem Herz was mir bis zum Hals schlägt und meine Stimme beinahe genauso lähmt wie die des Verletzen, bettle ich: „N-Ni … cht - Nicht. B-Bitte H-Ha … Harm-ony.“ Er – Er reagiert auf mein Flehen, mein Winseln, mein Gebettel und lässt den Kopf los, den er eben noch nach hinten ziehen wollte, um den Jungen somit … um ihn … Harm wendet sich schwer überlegend von ihm ab. Er kann sich kaum von dem unter ihm lösen, wie in – in einem Zwangszustand. Ich sehe, wie er mit sich ringt, um MEINEM Wunsch nachzugehen und so löst er sich und wendet sich dem Letzten zu, der trotz seiner Pause nicht aufstehen konnte. Er muss beim Tritt etwas am Kopf abbekommen haben, fällt bei allen Versuchen sich zu erheben zur Seite um und bleibt da liegen, als Harmony sich auch schon direkt auf ihn drauf stellt. Der Dritte und Letzte von ihnen ist derjenige, der sein Unglücklich richtig kommen sieht und rein gar nichts dagegen tun kann. Er hat nicht die Möglichkeit sich aufzurichten, wahrscheinlich nicht mal meinen Freund ordentlich als eine Person zu erkennen. Die Angst in mir steigt, sie steigt immer mehr, doch teilweise sehe ich gar nichts mehr, weil ununterbrochen ungewollte Tränen nachfließen. Ich schließe schmerzlichst meine Augen, will das gar nicht mehr sehen. Es ist ausgeartet, mehr denn je, doch meine Angst liegt nicht in dem was er tut. Natürlich ist es nicht normal, nicht richtig aber ich habe mehr Angst davor, dass … dass … Ein erneutes, lautes knacken schneidet die Luft, worauf ein Aufschrei folgt, laut und hilflos. Er bettelt nicht nach unserer Aufmerksamkeit, nach Hilfe, lässt es nur über sich ergehen. Er schreit noch ein paar Mal wegen Wunden, die ich zum Glück nicht sehen kann. Nur die knappen Worte eines der Mädchen verlangen wieder nach den meinen. „S-Seine Augen, o nein …“, jammert Viola. „H-Harmony bitte. BITTE!“, schreie ich dazwischen, genauso ungehalten wie er zuschlägt und im selben Moment öffnen sich auch wieder meine Augen. Ich sehe, wie er die Augen seines letzte Opfers eben mit den Fingern zerdrücken wollte, doch wieder hält der Schwarzschopf inne. Meine Angst überwindend, meinen Herzschlag und Atem kontrollieren wollend, taumle ich Schritt für Schritt näher. Harmony steht auf und bricht dem unter sich mit einer letzten Bewegung, einem letzten Tritt das Bein. Er – Er steht nun direkt vor mir, hat keinen Ausdruck mehr im Gesicht. Absolute leere durchdringt mich. Zittrig strecke ich beide Arme nach ihm aus, greife lediglich nach seinem Arm und merke, dass er auch darauf kaum eine Reaktion zeigt. Es ist als wäre er gar nicht mehr hier, als wäre er jemand ganz anderes, jemand, vor dem sich jeder in Acht nehmen sollte. Die Worte, die ich daraufhin von mir gebe, sind nicht die, die man von mir erwarten würde a-aber ich weiß wie wichtig sie sind: „Es – Es tut mir leid. Es tut mir doch so leid! So etwas … hätte ich nie gewollt. Ich – Ich missachte nie wieder einen deiner Befehle, bitte. Ich – Ich werde nie wieder zu ihnen gehen. Hör bitte auf, bitte, bitte. Sie sind doch deine Freunde. … Lass sie am Leben.“, wird meine Stimme immer leiser, verzweifelter, heiser. Die Tränen zwingen mich immer wieder zu kleinen Pausen, in denen ich Luft holen muss, um weitersprechen zu können. „D-Das sollen seine – seine Freunde gewesen sein?“, mischt sich auch Misami wieder mit ein, scheint nicht begriffe zu haben, was passieren kann, wenn man ihn überreizt. „TZZZZZZZ!!!“, zischt er nur, lässt die Mädchen wieder zusammen fahren und schweigen. Der Junge vor mir ist voller Blut, seine Sachen und seine Haut, einfach alles ist von Blut befleckt. Seine seltsame Ruhe, die er plötzlich an den Tag legt, hilft auch mir etwas ruhiger zu werden, auch wenn ich weiß, dass er in diesem Moment nicht so ruhig sein dürfte. Ich glaube, dass er trotzdem die Verzweiflung in mir sieht. Als er in Richtung des Tores geht, lasse ich ihn freiwillig los. Direkt an ihm vorbei rennt plötzlich ein großer Hund. Ich glaube, es ist der Hund, von dem sie letztens geredet haben, der, der Harm so sehr den Brustkorb zerkratzt hat. Er winselt und schaut nach seinem Herren. Es ist einer der Drei, einer von denen, die nicht mehr aufstehen können. Mir wird immer klarer wie Harmony hier her gefunden hat, denn direkt neben ihm, mit einem Hund der selben Rasse, steht Castiel. Ich bekomme eine gewisse Ahnung, wie sie von der Situation erfahren haben. Also keine Zauberei, einfach nur ein einsamer Hund in einem Park, der den Weg zu seinem Herrchen finden wollte. Ich war so dumm. Bin so dumm! Ich weiß, dass Harmony mir nichts tut, selbst in so einer Situation, in der alles außer Kontrolle gerät. Das wusste ich immer a-aber ich hatte es wohl für einen Moment vergessen und bin deswegen so erstarrt. Ich hatte alles vergessen. Mal wieder. Ich weiß doch eigentlich auch ganz genau, dass Harmony mich mag, gerade weil er diesen Beschützerzwang zurück hält und nicht bei jedem durchdreht, der etwas falsches sagt. Er hält sich immer so sehr zurück a-aber das war wohl zu viel. Einmal zu viel. „Wie kann man nur so seine Freunde behandeln.“, jammert Misami, die gerade eine Hand vor ihren Mund hält und sich das Ergebnis schockiert anschaut. Die anderen Mädchen tun das auch. Ich … tue es nicht. Ich habe eine gewisse Vorahnung wie die Jungs da am Boden liegend aussehen, wie viel Blut sie verloren haben und was alles gebrochen sein muss. „Kapiert ihr es immer noch nicht?!?“, werde ich ausfallend, extrem laut und bekomme die volle Aufmerksamkeit der Mädchen, „Das sind nur seine Freunde, weil er so kontrollieren kann, was sie tun. Harmony ist der Anführer der Gruppe, damit das von eben NICHT passiert und wisst ihr, warum das passiert ist?! Ich habe verdammt nochmal auf euren Rat gehört!!!“ Schweigen. Bevor ein Ton des Widerspruchs erklingen kann, wende ich mich dem hier ab und gehe in selbige Richtung wie mein Freund. Es war nicht richtig ihnen das vorzuhalten, es war aber auch nicht richtig von mir, dem überhaupt nachzugehen und als Folgeproblem aller falscher Entscheidungen tritt Harmony auf den Plan, der den größten Fehler von allen macht. Ich habe Angst … weil ich nicht will, dass er nicht mehr an meiner Seite sein kann. Das ist so egoistisch und so falsch aber ja … ich will nicht, dass er solche Dummheiten anstellt, für die man ins Gefängnis muss, für die er von mir getrennt wird. Ich wusste doch worauf ich mich einlasse, ich wusste, dass er sadistische Züge an sich hat, nur kannte ich noch nicht die Ausmaße dessen … und war auch immer froh darüber. „Na los Demon, bring ihn Heim.“, höre ich ein Wispern etwas weiter hinter mir, es klingt ruhig und angenehm – selten bei Castiel's Stimme. Meine Tränen fallen geräuschlos dem Boden entgegen und mein Blick geht zum großen Hund neben mir. Castiel selbst bleibt hörbar bei den Mädchen, hilft ihnen was Krankenwagen und Erstversorgung angeht. Ich hätte auch bleiben müssen, ihnen helfen müssen aber ich könnte die drei nicht ansehen ohne mir Vorwürfe zu machen, ohne mir noch mehr Vorwürfe zu machen! Ich weiß nicht, wie das die Anderen schaffen können. Ich schäme mich und gehe lieber auf die Suche nach Harmony. Ich weiß noch nicht, was ich ihm sagen soll, weil ich keine Worte finde, die ausdrücken, was in mir vorgeht. Vielleicht liegt das ja daran, dass ich nicht weiß, was in mir vorgeht. Ist es Angst, Wut, Trauer, Mitleid? Ich bin einfach nur noch verwirrt, völlig durcheinander. „D-Demon? Ich brauche jetzt dringend jemanden zum Reden.“ Seine Ohren gehen nach oben und sein Blick hebt sich mir entgegen, als würde er mir wirklich zuhören wollen. Meine Tränen fließen nach wie vor, obwohl ich nicht das Gefühl habe, dass es mir so schlecht damit geht wie es mein Körper ausdrückt. „Weißt du, seit mehreren Wochen mache ich schon alles falsch. Ich dachte doch echt, er würde sich von mir entfernen, er würde nicht mit mir reden und mich ständig daneben stellen dabei – dabei war ICH es, der dafür gesorgt hat. Harmony ist … war doch viel ruhiger geworden. Er stößt mich kaum noch weg, wenn ich ankomme und ich – ich … ich sollte doch reden, wenn mich was stört. Warum habe ich das nicht gemacht? Dann wäre das alles hier nicht passiert. Niemandem wäre etwas passiert. Jetzt werden die Drei ihn anzeigen und die Mädchen sagen eh gegen ihn aus. Ich wollte ihn nicht verlieren aber so blind wie ich war, passiert jetzt genau das Gegenteil. Was soll ich nur tun?“ Verzweifelt sehe ich zu ihm herunter. Er setzt eines seiner Ohren höher als das andere und legt seinen Kopf schief. Ein fragendes Fiepsen erklingt. Frustriert atme ich durch, frage: „Du verstehst kein Wort, von dem was ich sage, richtig? Gespräch mit einem Hund … ist das jetzt besser oder schlechter als meinen festen Freund erst zum durchdrehen und dann ins Gefängnis zu bringen?“ Er gibt ein lautes Bellen von sich. Das ist zwar keine Antwort aber immerhin eine Rückmeldung. Es dauert keine 3 Sekunden, da läuft er auch schon schneller werdend voraus. Ich weiß überhaupt nicht wo er hin will aber wenn der jetzt wegläuft, dann bin ich der Nächste, der so aussieht und das durch Castiel, der danach dann ebenfalls so aussieht. Das ist wie ein Kreis, ein unglaublich schlimmer Kreis. Mein Kopf ist wirklich nicht mehr frei zu kriegen davon. Ich will wirklich Harmony finden. So wie er drauf war, macht er vielleicht einfach bei irgendeinem anderen weiter. Vielleicht führt mich Demon ja auch gleich zu ihm … o-oder auch nicht. Er ist irgendeinen Weg durch ein kleines Waldstück gerannt. Ich habe wirklich gehofft, dass wir hier versteckt Harmony finden könnten aber dem ist nicht so. Er hat mich auf einem schmalen Pfad zurück zu unserem Haus gebracht. Zugegeben, den Weg kannte ich wirklich noch nicht aber der kann auch nur einem Tier einfallen. Na ja, vielleicht ist Harmony ja schon im Haus. Immerhin … Immerhin ist das die meiste Zeit sein Zufluchtsort. „Du hast bestimmt recht. Es bringt mehr Heim zu warten, selbst wenn er nicht da ist. Öhm … ja, ein Hund hat recht …“, schüttle ich über meine eigenen Worte den Kopf. Mir ist bis eben nicht aufgefallen, dass die Tränen getrocknet sind. Ein unsicheres, völlig falsches Lächeln hat sich in mein Gesicht geschlichen. Vielleicht werde ich jetzt genauso verrückt aber dieser Hund hat mir eben etwas Mut zurück gegeben. „Danke Demon, ehrlich, ich danke dir.“ Mit einem lauten Bellen verabschiedet er sich auch schon und wuselt sich den gleichen Weg zurück. Woher er den wohl kannte? Und woher er wohl den Weg ausgerechnet zu unserem Haus kannte? Die Tür schließe ich eher leise auf, kann meinen Blick nicht mal weiter nach unten richten, weil ich weiß, dass ich genauso voll Blut bin wie Harmony. Na ja, vielleicht nicht ganz so sehr. Die Tür geht genauso leise zu wie sie auf ging, in der Hoffnung Armin würde nichts merken. Heute geht auch wirklich alles schief. Er sitzt eben in der Küche und isst Müsli mit Bier, so wie es aussieht. Ich bleibe in einem Schockmoment stehen, starre meinen Zwilling an. Er starrt zurück, mit immer entsetzterem Blick. „Was …“ Mehr höre ich schon nicht von ihm. Ich renne einfach die Stufen hinauf, schließe mich im Bad ein und lausche von innen, wie er mir eilig nachgelaufen kommt. Ich kann auch hören, dass er kurz auf dem Weg nach oben über etwas flucht, weiß aber nicht worüber. Meine Beine geben unter mir nach. Der Tag heute war einfach zu viel. Langsam gleite ich die Tür hinab bis zum Boden und bleibe genau da sitzen, erschöpft, fast schon wieder mit Tränen in den Augen. Ich weiß genau, dass Armin auf der anderen Seite der Tür hockt und lauscht, ob er etwas hören kann. Ich kann nicht verstecken, dass mein Atem lauter wird, um die Tränen zu verdrängen. Ich bete so sehr, dass alles wieder gut wird. „Alexy? Lexy?“, fragt er leise, ruhig durch die Tür hindurch. Er klingt ja fast schon nach Sorge, als er spricht: „Sage schon, ist was passiert o-oder nein, was ist passiert? Du bist … du hast überall …“ „Geh weg!“, rufe ich ihm entgegen, muss gequält klingen, was ich eindeutig auch bin aber das ist nichts im Vergleich zu den Jungs. Wie konnte ich nur gehen, ohne ihnen zu helfen?! „Alexy, brauchst du Hilfe oder so?“ „Nein, verdammt nein! Es ist alles …“ „Ist es nicht! Nun sage schon, bist du verletzt? Brauchst du einen Arzt?“ „N-Nein Armin. Mir geht es wirklich gut, ich habe nichts.“ „Das ist nicht nichts! Nun sprich schon mit mir!“, fordert er dringlicher von mir. Ich antworte ihm nicht mehr, schließe für ein paar Minuten meine Augen. „Die Mädchen haben in den Gruppenchat geschrieben. Ich weiß nicht was genau passiert ist a-aber … egal, geh erst mal duschen. Wir können morgen darüber reden, einverstanden? Und so lange wirst du dich ausruhen, anstatt dich fertig zu machen, alles klar? … Stimme mir wenigstens zu, wenn du mich noch hörst! … Lexy, bitte!“, spricht er immer und immer weiter, als er nichts mehr von mir vernehmen kann. Ich höre, dass er sich auf die andere Seite der Tür setzt und da nun wohl wartet. Ich versuche nicht zu viel über alles Geschehene nachzudenken. Es ist eh aussichtslos. Es gibt nichts, was uns, IHN noch retten kann. Das Klügste wäre es, wenn er gar nicht erst wieder kommen würde. Ja, Harmony ist bestimmt schon über alle Berge. Ich spüre, wie sehr mein Körper zittert bei dem Gedanken. Mir ist eiskalt. Ich spüre kaum noch meine Glieder und trotzdem versuche ich aufzustehen. Alles ist völlig versteift, wie gelähmt. Nur vorsichtig, mich an der Tür abstützend, schaffe ich es in den Stand. Ich schlüpfe aus meinen Schuhen, doch für den Rest bin ich einfach zu … zu … ich weiß auch nicht aber es geht einfach nicht. Mit tapsigen, kleinen Schritten schaffe ich es bis zur Dusche. Ruhig in der Badewanne liegen ist nicht drin, nein, auf keinen Fall. Das Warme Wasser auf meiner Haut und den Sachen hilft. Es hilft so unheimlich, fühlt sich an, als würde es alle schlechten Dinge und all das geschehene Unheil von mir waschen, als wäre nie etwas passiert. Die nassen Sachen bleiben im Bad liegen. Vor der Tür sitzt noch immer Armin, doch der ist inzwischen eingeschlafen, als ich endlich heraus komme. Ruhig, vorsichtig beuge ich mich zu ihm herunter. Er reagiert gar nicht erst. Ich … lege meine Hand lediglich an seine Wange, sehe in das Gesicht meines träumenden, besorgten Bruders und bin unendlich dankbar, dass er noch bei mir ist. Die leichten, warmen Berührungen lassen ihn zucken und letztendlich auch wach werden. Er zwinkert viele Male, hat sich sogar erschrocken vor meiner Berührung und automatisch einen Arm schützend vor seinen Kopf gehalten. Als er mich erkennt, lächelt er zumindest wieder etwas. Er haucht mir fast schon liebevoll entgegen: „Zieh dir was an.“ Ich blicke nur auf den Boden. „Hat er dir wehgetan?“ Ich schüttle meinen Kopf, gebe mit schwerer werdendem, gequältem Atem zu: „Ich habe etwas schreckliches gemacht. Er – Er wird nie wieder zurück kommen. Er kann nicht. Ich bin nicht mal geblieben, um zu helfen.“ Armin nimmt mich leicht in die Arme, überlegt, was jetzt wohl richtige Worte wären und entscheidet sich für diese: „Das nimmt dir keiner so übel wie du denkst und das ist die Wahrheit, also kein Widerspruch. Geh schon …“ W-Was? Was war das denn eben … für ein Unterton? Irritiert sehe ich auf, nehme seine beiden Arme von mir, halte sie aber noch immer fragend fest. Er beantwortet mir meine unausgesprochene Frage so ruhiger er nur kann: „Ich … war sauer, wollte wissen was passiert ist und habe ihm gesagt, dass er verschwinden soll aber … er hat nichts gesagt und ich durfte nicht viel tun. Zumindest die offene Wunde ist genäht, so wie letztens die Kopfwunde.“ „Du hast ihm …“ „Ist das denn wirklich noch wichtig? Alexy, er lässt dich nicht allein.“, flüstert er, ruhig, sanft. Gerade den letzten Satz … Als er aufsteht, tue ich es ihm gleich, doch mein verdutztes Gesicht verharrt noch immer auf Armin. Es braucht, eh es richtig in meinem Kopf angekommen ist. In der Zeit zaubert sich ein erwartungsvolles Lächeln auf die Lippen meines Zwillings. Ich lasse mit einem Ruck seine Arme los, gehe einen Schritt zurück doch – doch er lügt nicht. „Im übrigen kam er so spät, weil wir eine Stunde zeitiger Schluss hatten. Du hast es nur vergessen zu erzählen.“ Also … noch mehr Grund, mir die Schuld daran zu geben. Alles falsch, alles kaputt, wofür? Für eine Theorie, die sich in meinem Kopf aufgebaut hat, weil ich selbst alles falsch gemacht habe! Ich sagte den Mädchen es wäre schön von ihm beschützt zu werden. Das Wissen darüber, dass man nichts und niemanden fürchten braucht ist auch schön, doch es ist noch viel schöner, wenn er es gar nicht erst tun muss. Innerlich zusammen brechend, pressen sich mehr und mehr Tränen hervor, welche Armin aber schon nicht mehr sehen kann. Die Tür zu meinem Zimmer schließe ich noch, doch aus einem Augenwinkel habe ich es schon gesehen, IHN schon gesehen. Er hat sich an die Kante des Bettes gesetzt und da gewartet. Ich sehe noch durch das gedimmte Licht, dass er nichts an seinem Aussehen geändert hat, bevor ich auch schon auf den Boden vor ihm zusammen sinke und mich in seine Arme begebe. Er hat sich keinen Gramm Schweiß, Dreck oder Blut von der Haut gewaschen und trotzdem ist er der Einzige, den ich jetzt hier hätte sehen wollen. Er braucht ein paar Minuten, um zu realisieren, dass ich mich um seinen Brustkorb in seine Arme hinein geschlungen habe und auch, dass ich nicht aufhören kann zu weinen. Die Tränen sind voller Freude, Leid, Scham, Verzweiflung, Angst, Trauer und allem, was ich im Wahn nicht mehr betiteln kann. Mein Herz zerspringt, eh ich merke, dass sich auch an seiner Aura nichts geändert hat. Das merke ich sogar durch die Tränen hindurch. Die Wärme, die ich letztens noch vermisst habe, ist trotz allem da, als wäre sie nie weg gewesen. „Was – Was – Was …“, mehr will mir nicht über die Lippen wandern, selbst wenn ich ihn so gern, so dringend fragen wollen würde, was er hier macht. Meine Worte, mögen sie noch so sinnfrei sein … ich kann hören, wie sein Herzschlag schneller wird, bei jedem Ton, der nichts mit meinen Tränen zu tun hat. Er bekommt mich gefühlt jetzt erst so richtig mit, jetzt, wo sein Herz so deutlich schlägt. Seine Arme schlingt er um meinen Hals, legt seinen Kopf über meine Schulter und atmet ganz ruhig ein und aus. Sein Griff wird fester, je mehr ich den ersten Moment verdaue. „E-Es – Es …“ Mit einem kräftigen Ruck zieht er mich mit sich nach oben auf mein Bett. An unserer Position hat sich nichts geändert. Ich klammere mich noch immer um seinen Brustkorb und er sitzt auf dem Bett, nur sitze ich da jetzt eben auch und er ist weiter in die Mitte gerutscht. „Sage nichts, diesmal einfach nichts.“ Er hat recht, so etwas von recht. Ich bekomme kein Wort zusammen, bin viel zu aufgebracht, um irgendetwas aufzunehmen und – und habe eh schon gegen viel zu viele Regeln und Befehle verstoßen. Er lässt nicht los, als er sich seitwärts ins Kissen fallen lässt. Harmony lässt mich alles los werden, was sich an Tränen in mir angestaut hat. Mit der Zeit kehrt mehr Wärme, mehr Harmony in ihn zurück. Ich merke es, spüre es einfach daran, wie er mich ansieht, berührt, umklammert. Natürlich merke ich auch, wie seine linke Hand sich kaum bewegt und Flüssigkeit über meinen Arm, meine Haut fließt. Stimmt ja … ich habe nichts an … „Deine Bettwäsche …“, erinnert er mich in einem rauen, fast schon abwesenden Ton. O Gott … dieses lächerliche Thema von letztens. Wieso … wie kann er jetzt noch an so einen Schwachsinn denken? Das ist zu viel für mich, einfach zu viel. In einem ruhigen Moment, in dem sich keiner bewegt und kaum einer hörbar atmet, fallen ihm die Worte ein, mit denen er rechtfertigt, was er getan hat, was er meinetwegen getan hat: „Niemand nimmt weg, was mir gehört!“ Mein Zittern kehrt zurück. Er sagt mir so viele Dinge so deutlich … mir wird immer schleierhafter, wie ich so weit gehen konnte. Seine Worte nehmen wieder mehr Farbe an und wenn ich genau schaue, sehe ich sogar seinen Vampirzahn blitzen, als er mir das beinahe schon stolz sagt. Mein Kopf vergräbt sich nur tiefer zwischen Kissen und dem Schutz seiner Brust, samt der umklammernden Arme und dem überall vorhandenem, an ihm und mir haftendem Blut. „Es gibt keinen Grund für mich zu gehen und morgen gehen wir in die Schule. Denk nur kurz darüber nach und schlafe endlich.“, befielt er mir rau und meint es doch nur liebevoll. Ich soll … nur kurz darüber … schlafen … Das heißt wohl er … hat einen Plan? Eine Idee? Uhhm … keine Ahnung … Ich weiß nicht, was er damit in meinem Kopf ausgelöst hat aber es hat sofort gewirkt. Mir blieb nicht mal Zeit zum nachdenken, doch am nächsten Morgen sollte ich sofort erfahren, was er meinte. Vor unserer Tür stehen die Mädchen. Harmony und Armin haben so lange gewartet, bis ich auf gemacht habe. Der eine saß im Wohnzimmer, der andere war noch immer oben im Zimmer. Sie alle haben sich e-entschuldigt … Wofür? Harm kam wie gesagt nicht mit runter. Ich konnte aber hören, dass er in der Zeit das Bad nutzte. Ich weiß nicht, ob er sich deswegen Vorwürfe macht oder überhaupt glaubt, dass das ein Fehler war. Ich sehe nur sein stetiges Lächeln wieder, als er sich runter getraut. Die Mädchen schweigen, als sie ihn sehen. Er reagiert nicht. Wie ich bereits sagte, er wird nur nach und nach wieder zu Harmony, zu dem Jungen, den ich wirklich kenne und nach wie vor liebe. Ich habe gemerkt, dass sich an meinen Gefühlen nichts geändert hat, trotz der Extreme die er an den Tag gelegt hat. Ich weiß nun auch wieder ganz klar, dass er mir jeden Tag zeigt, wie wichtig ich ihm bin. Hier ist sein zu Hause und er flüchtet trotz all der Probleme, die wir zwei miteinander haben, immer wieder zu uns. Es gibt keinen Tag, an dem er mir nicht zeigen würde, dass ich, dass Armin und ich unendlich wichtig für ihn sind. Meine selbst heraufbeschworenen Probleme haben sich in Luft aufgelöst, als ich die folgenden zwei Wochen Zeit hatte darüber nachzudenken. Ich habe ihm gesagt was mich stört, seitdem kommt er mindestens zweimal zum Unterricht, aus dem er häufig auch verschwindet. Außerdem frage ich ihn wieder normal nach seinen Aktivitäten, nicht als würde ich ihn kontrollieren wollen und er antwortet wieder ordentlich darauf und wenn gespielt wird, dann setze ich mich so mit dazu, dass ich nicht daneben abgestellt werden kann und das auch nur, wenn ich Lust dazu habe. Er hatte auch damit recht – eine Nacht darüber schlafen und in Ruhe darüber nachdenken bringt einfach mehr. Das soll jetzt aber nicht heißen, dass wir beide gleichberechtigt sind. Wenn Harmony etwas dagegen sagt, gilt das und nur das und wenn er etwas will, muss ich es tun … will ich es auch tun. Mir bleiben nur die kleinen Entscheidungen und in einigen Situationen muss ich mich nach wie vor herantasten a-aber das macht nichts, macht mir nichts. Letztendlich wurde auch die Frage gelöst, wann wir shoppen gehen. Er hat mir ausführlich erklärt was passiert ist. Das Geld dazu wurde geklaut und er hat es sich zurück geholt, samt neuer Wunden. Der genaue Tag steht nun fest. A-Ach ja und – und das aller wichtigste: Die drei Jungs haben zwar geblutet aber die Wunden wurden schnell versorgt. Die Arme konnten wieder eingekugelt werden, das Gleichgewicht wurde mittels einer OP wiederhergestellt, das Bein heilt schnell und die Wunden und Blessuren schwinden von Tag zu Tag mehr. Ob sie jetzt wieder Freunde sind? Keine Ahnung und das will ich auch nicht wissen. Sie wurden noch vor dem Eintreffen der Krankenwagen wieder wach, haben den Mädchen gesagt, dass sie von einem unbekannten Täter sprechen sollen, wenn man sie fragt. Stimmt, die Drei sind extrem aggressiv aber … sie haben zugeben müssen, dass sie wussten was passieren kann und nicht klug genug waren zurückzuweichen, als es ernst wurde. Ich glaube, sie wollten Harmony einfach weiter als Sexpartner behalten, obwohl … nur das allein veranlasst einen nicht dazu zu sagen, dass man keine Rechenschaft für so eine Tat verlangt. Ich glaube, ja, ich glaube wirklich, dass sie meinen Liebsten gern haben, nur eben auf ihre eigene und sehr seltsame Art und Weise. Die Mädchen haben im Chat geschrieben, dass sie nichts verraten werden, so wie die Jungs es wollten. Sie tragen einen Teil dazu bei, dass passiert ist, was passiert ist. Trotzdem – Trotzdem packen sie Harmony nun nicht mit Samthandschuhen an. Das würde er eh nicht lange aushalten, wenn er nicht sogar dagegen etwas tun würde. Sie versuchen zu verdrängen, was sie gesehen haben und ihre Angst zu vergessen. Sie behandeln ihn genauso wie vorher, wirklich ganz genauso. „Er ist nach wie vor ein Arsch!!!“, reißt mich die helle Stimme des blonden Mädchens in die Realität zurück. Es ist Pause und sie sehen mit zu, wie Harmony Kentin den letzten Kaffee vorhält. Sie sind beide geradezu süchtig danach und weil das Harmony weiß, nutzt er die Situation voll aus. Sie wollen mir nach wie vor weismachen, dass Harmony nicht mein Typ ist und dass ich bessere haben könnte. Ich bin fast schon froh, dass sie nicht dahinter gestiegen sind, dass es niemand besseres geben kann und ich, genau so wie er ist, auf ihn stehe, denn alles in allem kann ich sagen: So wie es jetzt ist … „Hey mein Großer, Augen zu!“, befielt mein Punk mit seinem heute violettem Haar mir. Ich tue es und er küsst mich sofort. Die Mädchen zischen wie üblich, einige lachen darüber, wie leicht er mich um den Finger wickeln kann und andere, wie Viola, sind mehr oder minder davon begeistert. „Macht das gefälligst woanders!“ „Na Hauptsache beim shoppen seit ihr etwas mehr abgelenkt!“ „Alexy und einkaufen? Da werden sie gar keine Zeit zum Knutschen haben!“ Sie unterhalten sich durch die Reihe durch, lachen, lachen Harmony sogar aus und er – er gibt sich Mühe damit umzugehen. „Bitte mehr!“, bettle ich und er tut es, diesmal auch mit Zunge, meinetwegen und der Mädchen wegen. Er mag keine Show aber er ärgert die Mädchen gern. Als sich Armin dann dazu setzt wird gespielt und Kentin und Castiel sehen zu. Kim schafft sich ihren Platz frei und lehnt sich mit einem Ellenbogen auf die jeweilige Schulter der Jungs, um auch noch etwas mitzubekommen. Mein Liebster hat sein Lachen wieder gefunden, und ich lache immer wieder mit ihm. … so ist es richtig.
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